Bei seiner Untersuchung der Tagebücher, so Philippe Lejeune, sei er ebenso auf »des gens raisonnables« wie Exzentriker gestoßen (S. 213). Er bietet seinen Lesern ein Panorama unterschiedlichster Tagebucharten und -autoren, bekannter wie unbekannter. Die Quellen stammen aus der Frühzeit des Tagebuchschreibens in Frankreich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, weitere französischsprachige Beispiele kommen hinzu. Lejeune präsentiert sie vorrangig gegliedert nach Themenschwerpunkten – Liebe, Glauben, Gesundheit, Erziehung, Trauer, Sexualität, Familie und Individuum sowie Umgang mit der Zeit. Seine im Band versammelten Beiträge sind zuvor bereits in Zeitschriften, Sammelbänden oder auf seiner Seite »Autopacte« (http://www.autopacte.org) erschienen. Hier bietet sich nun die Möglichkeit der Zusammenschau und des Vergleichs.

Die Forschung hat Tagebücher wie andere Selbstzeugnisse seit einiger Zeit intensiver in den Blick genommen, Ego-Dokumente sind eine gern genutzte Quelle1. Zu fragen ist unter anderem, inwieweit sich die Forschung verengend am »modernen Individuum« und damit einem spezifischen Personkonzept orientiert2. Gerade angesichts des vielfachen Quellenmangels geht es um das Verhältnis von Epochen- und Raumspezifika und Möglichkeiten der Verallgemeinerung.

Bei Lejeune wird deutlich, wie unterschiedlich »seine« jeweiligen Verfasser das Medium Tagebuch nutzten, wie verschieden die Bedürfnisse waren, auf die sie mit dem Schreiben reagierten, und damit auch die gewählten Sinnkonstruktionen. Jeanne-Marie Prévost-Bellamy diente ihr Tagebuch im Genf der frühen 1770er Jahre als »médecin«, um mit ihrem häufig empfundenen Unwohlsein umzugehen (S. 27). Marc-Antoine Jullien hingegen ging es um die Kontrolle der Zeit – das Unglück war »de perdre son temps« (S. 267). Madame de Genlis wiederum habe als Erzieherin der Kinder der Herzogin und des Herzogs von Orléans Tagebücher zum Machtinstrument gemacht. Mit ihnen kontrollierte und unterdrückte sie die Kinder wie deren Lehrerinnen und Lehrer und suchte schließlich sogar die Mutter der Kinder zu disqualifizieren. In Anlehnung an Bentham bezeichnet Lejeune dieses Überwachungssystem als »panoptique«. Die Analyse der Genlis’schen Machtstrategien gleicht freilich einem Puzzle: Da ihre Tagebücher nicht greifbar sind, zieht Lejeune unter anderem ihren Erziehungsroman »Adèle et Théodore« sowie ihre Schriften »Discours sur l’éducation de M. le Dauphin« und »Leçons d’une gouvernante à ses élèves« heran. Wie in anderen Kapiteln fragt er zudem nach der Biografie der Autorin und gewährt unmittelbare Einblicke durch ausführlichste Quellenauszüge.

Nicht zuletzt widmet er sich intensiv den jeweiligen Schreibpraktiken. So wird deutlich, was es heißt, wenn Ludwig XVI. in seinem Tagebuch unter dem Datum 14. Juli 1789 ebenso »rien« notierte wie an zahlreichen Folgetagen: Seit seinem 12. Lebensjahr war dieses Tagebuch bestimmten Themen gewidmet (der Jagd, Empfängen, zeremoniellen oder religiösen Akten, Reisen); in dieser Hinsicht war in Versailles nichts geschehen. »Nichts« hieß demnach nicht, dass der Rest ihm nichts bedeutete. Eine weitergehende Kommentierung oder Zeitzeugenschaft, die sich bei anderen Tagebuchschreibern zur Revolution teils findet (vgl. S. 43), versuchte der König nicht.

Einleitend bringt Lejeune einen kurzen Abriss zur Entwicklungsgeschichte des Tagebuchschreibens in Frankreich, wo sich diese Praxis rund 100 Jahre später als in Deutschland oder Großbritannien etablierte3. Auch Lejeune erklärt dies mit dem englischen Puritanismus beziehungsweise dem Pietismus in Deutschland. Er bietet freilich keine strenge Chronologie der Entstehung des Tagebuchs. Vielmehr schlägt er verschiedene Schneisen zur Beantwortung der Frage, warum das eigene Leben nun in dieser Form zum Thema gemacht wurde4, unter anderem ausgehend von der Idee der »Conversation avec soi-même« bei Louis-Antoine de Caraccioli (1751) oder zum Zusammenhang von Introspektion und der Entstehung der Psychologie. Es habe eine sich überlagernde Entwicklung zwischen dem Tagebuch, dem Brief und der Autobiografie gegeben. Die Gattungsgrenzen sind mithin nicht nur zur Literatur schwerlich festzulegen. Entscheidend für das Tagebuch sei jedoch die Datierung. Im Mittelpunkt stehen insofern die Sorge um das Vergehen der Zeit, das (eigene) Gedächtnis und die Erinnerung5. Ebenso geht es um die Bewältigung von Emotionen, Ängsten und Hoffnungen.

Lejeune bevorzugt den Begriff des »journal personnel« statt des im Französischen üblichen »journal intime«6. Schließlich sei die Privatheit ein sekundäres und sich erst später herausbildendes Merkmal des Tagebuchs. So wurden die »journaux en famille« der Coquebert de Monbret-Brongniart über verschiedene Generationen weitergegeben. Allerdings nutzt auch Lejeune den Begriff des Intimen zur Charakterisierung: Das Tagebuch Prévost-Bellamys sei »un vrai journal intime«, allein für sie und als Lebenshilfe bestimmt (S. 467), Madame de Genlis’ Tagebuch zum Tod ihrer ältesten Tochter ein ebensolches der Trauer und des Gebets. Der junge André-Marie Ampère führte zwei Jahre lang ein »journal intime«, um den Annäherungsprozess an seine spätere Ehefrau festzuhalten. Als Schlüsselmoment für diese Geschichte des Intimen gilt Lejeune die Praxis, das Tagebuch als »Du« anzusprechen.

Immer wieder macht er den Prozesscharakter seines Arbeitens deutlich. Er spricht von der »archäologischen« Arbeit im Archiv (S. 10), Geheimnissen und Hypothesen, lässt die Leser an seinen Lektüren, Eindrücken bei den Recherchen und seinem Erstaunen teilhaben. Das in sich tagebuchartig angelegte Kapitel »Au jour d’aujourd’hui«, in dem Lejeune das eigene Schreiben und Forschen zur Quelle macht, ist als Selbsterkundungsprojekt zum besseren Verständnis des Untersuchungsgegenstandes verständlich; für den Leser scheint eine bündigere, die Ergebnisse dieses Arbeitsprozesses in den Mittelpunkt rückende Form allerdings gewinnbringender. Aber: Lejeune weiß um die Risiken einer vorschnellen Generalisierung. Er eröffnet einen Blick auf die Vielfalt der Tagebücher und der (narrativen) Identitäten auch innerhalb einer Zeitepoche und von Kulturräumen. Nicht zuletzt bietet er eine Schulung zum Lesen und Befragen entsprechender Quellen und wirft Fragen auf – so danach, inwieweit es schon um 1800 darum ging, die Zeit rentabel zu machen oder sich vielmehr »un espace de liberté« zu schaffen (S. 22).

1 Vgl. dazu bsp. Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 [20.12.2002], URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html.
2 Andreas Bähr, Peter Burschel, Gabriele Jancke (Hg.), Räume des Selbst. Eine Einleitung, in: dies., Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, Köln 2007, S. 1–12, hier S. 2f.
3 Vgl. bspw. Élisabeth Bourcier, Les journaux privés en Angleterre de 1600 à 1660, Paris 1976.
4 Vgl. auch Philippe Lejeune, Catherine Bogaert, Un journal à soi. Histoire d’une pratique, Paris 2003.
5 Vgl. auch Philippe Lejeune, Datierte Spuren in Serie. Tagebücher und ihre Autoren, in: Janosch Steuwer, Rüdiger Graf (Hg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 37–46, hier S. 39.
6 Vgl. bspw. Alain Girard: Le journal intime, Paris 1963.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Astrid Ackermann, Rezension von/compte rendu de: Philippe Lejeune, Aux origines du journal personnel. France, 1750–1815, Paris (Honoré Champion) 2016, 648 p. (Les dix-huitièmes siècles, 189), ISBN 978-2-7453-3037-6, EUR 99,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48500