Die vorliegende Bonner Dissertation von Christian Schlöder steht im Zeichen des Labrousse’schen »Pour être historien, il faut savoir compter«. Schlöder präsentiert eine Sammlung historisch-demographischer Analysen zur rheinischen Stadt Bonn im 18. Jahrhundert (1715–1798), mit denen er die quantitative Entwicklung der Bonner Bevölkerung nachvollzieht und aus sozioökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren erklärt.
Bonn war als Residenz des Kurfürsten und Erzbischofs von Köln eine der »geistlichen« Residenzstädte“ im Alten Reich. Schlöders sozialgeschichtliche Fragestellung reiht sich damit ein in die schon vorliegenden Vergleichsstudien zu (geistlichen) Residenzstädten wie Mainz oder Trier, wobei Schlöder mit methodischen wie inhaltlichen Neuerungen aufwartet.
Die Dissertation untersucht die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die – wie der Autor aufzeigt – vormalig nur aus Vermutungen, Kalkulationen und Missverständnissen rekonstruiert worden war. Schlöder hingegen wertet die Kirchenbücher der vier innerstädtischen Pfarreien St. Remigius, Gangolf, Martin und Petrus statistisch aus (siehe Tabellenmaterial im Anhang, S. 280–298) und kann abschließend differenzieren, dass die Bevölkerung Bonns im 18. Jahrhundert keineswegs kontinuierlich wuchs, sondern sich im Gegenteil nach einem Höhepunkt um 1750/1760 rückläufig entwickelte.
Der Nachweis zur Bevölkerungsentwicklung wird überzeugend geführt. Besondere Beachtung verdienen dabei die Hinterfragung der Raumnutzung auf einer konstanten innerstädtischen Fläche, die barock-obrigkeitliche Raumplanung und die Analyse der Sozialtopografie Bonns (»Armen-« und »Reichenviertel«). Hierzu werden nicht-schriftliche Quellen (Stadtpläne, Planungsskizzen etc.) verglichen, um mit Stadtplanungsprojekten und straßenbaulichen Maßnahmen der Entwicklung von Wohnsituation und dem Einfluss der Landesherrschaft nachzugehen.
Die Nutzung und Auswertbarkeit geschriebener Quellen, allen voran der Kirchenbücher, wird zwar einleitend transparent dargelegt, jedoch bleibt unerwähnt, ob und, wenn ja, welchen Eingang städtische Nicht-Katholiken, wie geheime protestantische Christen oder Juden, in die statistische Erhebung gefunden haben. Auch wenn der Forschungsstand hier keine endgültigen Schlüsse zulässt und die Zahlen sich im wenig ausschlaggebenden Bereich bewegen, wäre diese Problematisierung der Quellennutzung wünschenswert.
Auf der Quellenebene verwundert auch das Ende des Betrachtungszeitraums mit der französischen Okkupation. Der Autor begründet den Einschnitt hier mit dem Sprach- und Medienwechsel hin zu französischen Zivilstandsregistern, jedoch scheint dies für die Fragestellung der Arbeit keine Auswirkung zu haben. Im Gegenteil hätte eine diachrone Betrachtung über den Regimewechsel hinaus (Dis)Kontinuitäten der Bevölkerungsentwicklung über einen knappen Ausblick hinaus (S. 37f.) nachweisen können.
Die zeitliche Rahmensetzung der sozialgeschichtlichen Studie orientiert sich somit weitgehend an den politikgeschichtlichen Eckdaten und führt damit kaum zu Neuansätzen aus der sozialgeschichtlichen Perspektive.
Für die Erklärung der abnehmenden Bevölkerungsentwicklung hingegen präsentiert Schlöder ein Bündel an Faktoren, das er aus verschiedenen sozialgeschichtlichen Analyseansätzen gewinnt, auch wenn er die Entwicklung hauptsächlich auf die Verkleinerung des kurfürstlichen Hofes nach dem Tod von Kurfürst Clemens August 1761 zurückführt. Schlöder differenziert die bislang als konkurrenzbelastet verstandene wirtschaftliche Wechselbeziehung zwischen Stadtbewohnern und (exemierten) Hofangehörigen, konstatiert aber am Ende dennoch die wirtschaftliche Bedeutung des prachtvollen Kurkölner Hofes für die städtische Entwicklung. Dessen fortschreitende Verkleinerung nach 1760 führte zu wirtschaftlichem Niedergang, dem wiederum eine abnehmende Fertilitätsrate (steigendes Heiratsalter) folgte.
Die multifaktorielle, eng verkettete Erklärung ist überzeugend, methodischen Zweifel nährt aber die Einbindung des aufklärerischen Gedankenguts als Analysekategorie. Für die Frage, ob sich das »generative Verhalten« durch aufklärerischen Wissenstransfer beispielsweise in der Kindersterblichkeit veränderte, stellt Schlöder einleitend richtigerweise fest, dass dies nicht allein durch die obrigkeitlichen Bemühungen zur Reformdurchsetzung erklärt werden kann. Um der Kausalität enger nachzugehen, sucht Schlöder daher nach publizistischen Gedanken der Aufklärung in Bonner Zeitschriften und stellt fest, dass diese kaum Auswirkungen auf die Bonner Bevölkerung hatten, der er hingegen ein Verharren in der konfessionellen Mentalität bescheinigt. Die Aufklärung habe somit laut Schlöder das generative Verhalten der Bonner nicht beeinflusst. Fraglich bleibt dabei aber, ob eine konstante Säuglingssterberate ausschließlich durch einen nicht weiter nachgewiesenen Bonner Erzkatholizismus erklärt werden kann, der sich den aufklärerischen Ratgebern verschloss.
Richtigerweise ordnet Schlöder das Bonner Beispiel immer wieder in die bereits untersuchten Vergleichsfälle zu anderen Residenzstädten ein. Bonn wird als eine Residenzstadt unter vielen untersucht, sticht aber doch mit einigen Besonderheiten heraus: Schlöder führt dies zurück auf Größe und Bedeutung des Kurkölner Hofes bis zur Mitte des Untersuchungszeitraums, von dessen Strahlkraft die Stadt in wirtschaftlicher Konjunktur profitierte. Mit dieser an den Hof gebundenen Dynamik schwankte auch die sozioökonomische Situation und in der Folge die »generative Struktur« (Heiratsalter z. B.) der Stadt im 18. Jahrhundert.
Schlöder präsentiert eine Studie, die reich an Methoden, Quellen und detailliert recherchierten stadtgeschichtlichen Ergebnissen ist und sowohl für Residenzstadtforscher als auch Bonner Stadt- und Kurkölner Hofhistoriker unabdingbar ist. Die verfolgten Ansätze und Auswertungen werden auch für die sozialgeschichtliche Annäherung an das Bonn des 19. Jahrhunderts von Interesse sein, gerade weil der Untersuchungszeitraum an der politikgeschichtlichen Trennlinie zur französischen Rheinlandbesetzung entlang gezogen wurde. Der Lesbarkeit dient es sehr, dass die Fußnoten weitgehend auf die Angabe von Zitationen beschränkt bleiben. Jedoch hätte manches in dieser Veröffentlichung durch Vermeidung von Redundanzen innerhalb und zwischen den Kapiteln gestrafft werden können und die Struktur hätte den Argumentationsaufbau der verschiedenen Faktoren noch sichtbarer widerspiegeln können.
Manches in dieser Veröffentlichung hätte durch Vermeidung von Redundanzen innerhalb und zwischen den Kapiteln gestrafft werden können und die Struktur hätte den Argumentationsaufbau der verschiedenen Faktoren noch sichtbarer widerspiegeln können. Zwar ist die ausdauernde Leistung der Übertragung der Kirchenbücher in statistisches Tabellenmaterial hoch anzurechnen und für die Erarbeitung der Argumentation zentral, jedoch weniger für deren Vermittlung in der Buchform. Aufgrund der nachvollziehbaren und zuverlässigen, »aggregativen« Auswertungsmethode hätte eine textliche Abbildung der Ergebnisse ausgereicht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Bechtold Jonas, Rezension von/compte rendu de: TITEL, in: Francia-Recensio 2018/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48509