Laurent Joly, directeur de recherche am CNRS und Mitglied des Centre de recherches historiques (EHESS) in Paris, legt mit »Dénoncer les juifs sous l’Occupation« die erste Monografie zur Judendenunziation im besetzten Frankreich vor und vertieft damit einen Beitrag aus dem von ihm 2012 herausgegebenen Sammelband »La délation dans la France des années noires«1. Ein erstes Verdienst des vorliegenden Buchs ist es, das Bild der Millionen von Denunziationsbriefen gegen Juden zu dekonstruieren, das der Journalist André Halimi in einem Buch aus den 1980er Jahren geprägt hat, und das die öffentliche Wahrnehmung des Themas noch immer beherrscht2. Die in Paris und Umgebung angesiedelte Studie von Laurent Joly versucht über diese quantitative Einordnung hinaus das »soziale Umfeld, die Instrumente, den Umfang und die menschlichen Folgen der Denunziation« (S. 3) herauszuarbeiten, wofür der Autor vielfältige und das Buch gliedernde Quellengattungen heranzieht.

Einen ersten Eindruck über das Ausmaß der Denunziationen (Kapitel 1) vermittelt der Posteingang des Commissariat général aux Questions juives (CGQJ), der sogenannte »registre L«, das die eingegangen Denunziationsbriefe auflistet und kommentiert 3. Der Autor schätzt (aufgrund der Lücken für die Jahre 1940 bis 1942), dass bis 1944 um die 3.000 mehrheitlich anonyme Briefe an dieses staatliche Organ des Antisemitismus gesandt wurden.

Jenseits der Schätzungen und Statistiken verleiht der häufige Wechsel in die Mikroperspektive der Untersuchung analytische Tiefe, was unter anderem im dritten Kapitel deutlich wird. Es widmet sich dem Schicksal der jüdischen Studentin Anette Zelman, die aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Vater ihres Freundes denunziert wurde, um einen »mariage mixte« zu verhindern. Sie wurde 1941 im ersten Konvoi aus Frankreich nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihr Fall verdeutlicht die frühe Phase der Judenverfolgung in Frankreich, in der die französische Staatsbürgerschaft noch nicht gegen Übergriffe des Besatzers und des Vichy-Regimes schützen konnte4. Über diesen Einzelfall hinaus geht Laurent Joly in allen Kapiteln auf Schicksale einzelner Opfer ein und leistet so auch einen Beitrag zur Erinnerungskultur der Shoah in Frankreich, insbesondere auch durch die zahlreichen Fotografien der Opfer.

Zurück zu den Tätern: Unter ihnen stellen die sich als uneigennützig verstehenden (militants) des Antisemitismus eine Minderheit dar, auch wenn sich alle auf Werte (Recht und Gemeinwohl) berufen mussten, um ihr persönliches Interesse zu kaschieren. In den meisten Fällen kannten sich Denunziant und Opfer, wie man im Fall Zelman sehen konnte. Das zweite Kapitel »Les voisins« ist dieser Nähe gewidmet und zeigt wie Judendenunziationen verwendet wurden, um sich zu bereichern, unliebsame Konkurrenten auszuschalten, sich zu rächen oder Machtfantasien auszuleben. Hier greift der Autor auf 103 Gerichtsakten der cour de justice des Seine Départements zurück, das zwischen 1944 und 1951 die Denunziationen nach dem Strafgesetzbuch aburteilte. In den Akten sind die Ermittlungen gegen die Täter überliefert, die es erlauben neben der Bandbreite an Motiven die Denunziation auch als Praxis zu verstehen beziehungsweise »l’investissement affectif personnel très puissant« (S. 54) des Denunzianten nachzuvollziehen: Vom Suchen der Adresse der Instanz, an die man sich wenden wollte, über das Frankieren und Absenden des Briefs bis zur Bereitschaft die Türschwelle der Polizei oder deutschen Dienststelle zu überschreiten.

Im November 1942 wird auf Drängen der deutschen Besatzer innerhalb der Préfecture de Police5 die Brigade Permilleux (offiziell: Service spécial des Affaires juives – SSAJ) geschaffen. Sie zeichnete von polizeilicher Seite für die Treibjagd auf die Juden in Paris verantwortlich – neben dem »rayon juif« der dritten Abteilung der Renseignements généraux (RG) und der Section d’enquête et de contrôle des CGQJ. Das vierte Kapitel beleuchtet die Arbeitsweise dieser Polizeibeamten, die nicht aus eigener Initiative einem solchen Dienst beigetreten waren. Sie ermittelten auf der Basis der an sie adressierten Denunziationen und von Hinweisen der Gestapo gegen jüdische Familien und nahmen sie im schlimmsten Fall fest. Die auf Denunziationen zurückzuführenden Festnahmen durch die Brigade Permilleux schätzt Joly auf circa 2.500 Fälle.

Wie erwähnt stellen die rein ideologisch motivierten Denunziationen nur einen kleinen Teil des Phänomens dar, doch zeigt insbesondere das vorletzte, fünfte Kapitel über die Wochenzeitschrift »Au Pilori«, inwieweit die Denunziationen von Juden durch die Presse befördert wurden, und wie diese die Sprache der Denunziationsbriefe färbte. In einem kurzen Abriss werden die verantwortlichen Akteure, die personellen Veränderungen und die ideologische Entwicklung der Zeitschrift im Laufe der Besatzungszeit erörtert. Die publizierten Denunziationen und Mordaufrufe muten angesichts der relativ großen Auflage des Blattes erschreckend an; sie hatten (wenn auch zahlenmäßig geringe) tödliche Folgen. Im Epilog zieht Laurent Joly schließlich eine Bilanz zur épuration der Denunzianten im Pariser Raum (1.483 Verurteilte, davon 225 wegen Denunziation gegen Juden).

Die knapp 200-seitige Studie präsentiert insgesamt ein breites Analysespektrum, das versucht die gesamte Kette von den Tätern und ihren Motiven bis zu den teilweise tödlichen Konsequenzen der Denunziationen als „klassenübergreifendes“ Phänomen in Betracht zu ziehen. In den Worten Jolys: »La délation ne connait pas de privilège« (S. 22). Durch das dynamische Wechselspiel von Makro- und Mikroperspektive vermittelt der Autor ein lebhaftes und differenziertes Bild der Judendenunziation im Pariser Raum, die vor allem zwischen 1943 und 1944 einen signifikanten Anteil an den Deportationen und der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung hatte.

Zu bemängeln wäre lediglich der fehlende Bezug auf internationale Forschungsliteratur6. Es ist zu hoffen, dass mit dieser Studie weitere Untersuchungen angeregt werden, beispielsweise über die Denunziationen vor deutschen Behörden, die im vorliegenden Werk nicht behandelt werden. Da die Judenverfolgung im Pariser Raum vorwiegend von französischen Polizeistellen durchgeführt wurde, fällt dieser Aspekt nicht so stark ins Gewicht, wie man annehmen dürfte. In diesem Zusammenhang stellt sich außerdem die Frage, wie in anderen Regionen Frankreichs denunziert wurde, und wie die historisch schwer zu fassende mündliche Denunziation in eine Analyse einbezogen werden könnte.

1 Laurent Joly (Hg.), La délation dans la France des années noires, Paris 2012.
2 André Halimi, La délation sous l’Occupation, Paris 1983.
3 Das Wirken dieser Institution der staatlichen Judenverfolgung in Frankreich behandelt Laurent Joly in seiner Promotion und einer darauf basierenden Monographie: Laurent Joly, Vichy dans la »solution finale«. Histoire du commissariat général aux Questions juives (1941–1944), Paris 2006; ders., L’antisémitisme de bureau. Enquête au cœur de la préfecture de Police de Paris et du commissariat général aux Questions juives (1940–1944), Paris 2011.
4 Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch nach 1941 wurden französische Juden Opfer der Deportation und der Vernichtung, wenn auch in weit geringerem Ausmaß als ausländische oder staatenlose Juden in Frankreich.
5 Die Préfecture de Police bestand nach Joly im Gegensatz zum CGQJ nicht hauptsächlich aus rechtsextremistischen Aktivisten und stellte eine »traditionelle« Institution des Staats dar (S. 111 f.).
6 Anita Krätzner (Hg.), Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschung, Göttingen 2015.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Max Derrien, Rezension von/compte rendu de: Laurent Joly, Dénoncer les juifs sous l’Occupation. Paris 1940–1944 (CNRS Éditions) 2017, 230 p., 8 p. de pl., ill. en coul. (Seconde Guerre mondiale) ISBN 978-2-271-09432-2, EUR 22,00. , in: Francia-Recensio 2018/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48515