Der deutsche Titel schrammt an Ian Kershaws These vorbei. In seinem neuesten Buch legt es der britische Historiker nämlich darauf an zu verstehen, wie Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst im Abgrund versank und wie es sich dann zwischen 1945 und 1949 auf den Weg machte, »der herausführte aus der Hölle auf Erden«. »To Hell and Back« heißt das Original pointiert, das 2015 in der neuen Reihe »Penguin History of Europe« erschienen ist.
In einer Zeit der großen Erzählungen – man denke an die Werke von Heinrich August Winkler (2009), Jürgen Osterhammel (2009), Lutz Raphael (2011), aber auch Richard J. Evans‘ dreibändige Darstellung des »Dritten Reiches« (dt. 2004–2009)1 – kommt es auf den Blickwinkel an, aus dem diese Synthesen geschrieben sind. Eine moderne Geschichte Europas kann keine parallele Geschichte seiner Nationalstaaten sein, soviel zumindest ist klar, sondern muss aus der Vogelperspektive wesentliche Antriebs- und Bremskräfte für Entwicklungsprozesse erkennen lassen, die der Autor für maßgeblich hält.
Kershaw hat seine Erzählung in zehn Kapiteln chronologisch angelegt, um auch kurzfristigen einzelstaatlichen Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Ideologie und Politik auf die Spur zu kommen. Unterbrochen wird diese Anordnung durch ein strukturgeschichtliches Kapitel, das übergreifende Probleme wie den demografischen Wandel oder die Bedeutung der christlichen Kirchen thematisiert. Es überrascht nicht, dass Kershaw als einer der führenden NS-Forscher einen Akzent auf die deutsche Geschichte setzt, ausgehend vom Ende der Weimarer Republik, das jüngst wieder mehr Aufmerksamkeit erfährt. Die russische/sowjetische Geschichte wie auch die der ost- und mitteleuropäischen Staaten, der »Bloodlands«, wird berücksichtigt, gelegentlich auch die Geschichte der Türkei und der USA.
All diese einzelstaatlichen Prozesse verbindet Kershaw zur Geschichte eines Großen Kriegs. Zu deren Stoff gehört die Ursächlichkeit des Ersten Weltkriegs und des Versailler Vertrags für die innen- und außenpolitische Instabilität des europäischen Staatengefüges in der Zwischenkriegszeit und für den Zweiten Weltkrieg. Weil militärische Gewalt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, nimmt der Krieg in dem mehr als 700 Seiten starken Band viel Raum ein. Kershaw fragt gerne nach Schlüsselentscheidungen und geht auch mal kontrafaktisch der Frage nach, was geschehen wäre, wenn man diese anders getroffen hätte. Dass die krisengeschüttelte Republik von Weimar am Ende doch noch unterging, war nicht zwangsläufig; Hitlers innen- und außenpolitischer Kurs dagegen folgte einer Dynamik, die deutlich weniger Alternativen bot.
Kershaw hat gut daran getan, den zeitlichen Bogen über das Kriegsende 1945 hinaus zu schlagen. Weil alle Staaten und Gesellschaften im Nachkriegseuropa angesichts wirtschaftlicher und sozialer Krisen mit dem Überleben zu kämpfen hatten, wenn auch auf je verschiedene Weise, gehört die unmittelbare Nachkriegszeit für ihn zur Erzählung des heißen Kriegs dazu, zumal sie, so wäre zu ergänzen, auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung in einen Zusammenhang mit den frühen 1940er Jahren gehörte. So entgeht er auch der eurozentrischen Annahme einer Stunde Null. Eine Besonderheit der angelsächsischen Literatur fällt der deutschen Leserschaft ins Auge: Um den uns längst fremdgewordenen Erfahrungshorizont der Zeitgenossen anzudeuten und um seine Geschichte durch Geschichten zu konkretisieren, lässt Kershaw immer wieder persönliche Erlebnisse aus seiner eigenen Familie in die Darstellung einfließen.
Gleichwohl handelt es sich in erster Linie um eine politikgeschichtliche Darstellung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die anfängliche Leitfrage lautet, wie Diktatur und Demokratie in einen immer größeren Gegensatz gerieten; der »Rechtsruck in Europa« (S. 319) bildet eine narrative Leitlinie. Sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte dagegen spielen eine eher geringe Rolle. Auch sucht man lange vergebens nach transnationalen Breschen. Dieser Tendenz, so sehr sie dem Format der Überblicksdarstellung geschuldet sein mag, hätte Kershaw stärker entgegensteuern können.
Auch die zuweilen traditionelle Interpretation, die manche aktuellen Forschungstendenzen nicht widerspiegelt, lässt sich bemängeln. Das betrifft die Kolonialgeschichte (die Kershaw nur streift), den Genozid an den Armeniern (den er nicht so nennt) und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs (für den er in erster Linie Deutschland verantwortlich macht, mithin gegen Christopher Clarks »Schlafwandler«-These argumentiert2). Der Text muss ohne Anmerkungsapparat auskommen, diese Beschränkung gibt das Format der Reihe vor. In der Auswahlbibliografie finden Leserinnen und Leser jedoch die Verweise auf spezifischere Gesamtdarstellungen, etwa zu der bei Kershaw knapp gehaltenen Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs.
Im Mai 2018 wurde der britische Historiker mit der Karlsmedaille für europäische Medien ausgezeichnet. Er habe in seinen Büchern dargelegt, warum die europäische Einigung ein Friedensprojekt sei, hieß es in der Laudatio, in der »Höllensturz« seinen Platz hatte. Der Preis geht an Persönlichkeiten, die zur Herausbildung einer europäischen Identität beitragen. Doch die längst nicht beantwortete Gretchenfrage der europäischen Geschichte bleibt die nach ihren Möglichkeiten. Lässt sich angesichts der Vielzahl historischer Verläufe, der Pluralität von Erfahrungen und Erinnerungen überhaupt von einer europäischen Geschichte im Singular sprechen, auf die sich eine europäische Identität stützen könnte?
Historiografisch gewendet: Wie ließe sich diese europäische Geschichte gegebenenfalls erzählen? Kershaw selbst hält sein jüngstes Buch für »das wohl mit Abstand schwierigste«, an das er sich je »gewagt« habe, wie er gleich im ersten Satz klarstellt (S. 7). Das Wagnis hat sich gelohnt. Kershaw hat es nach Art der Collage souverän geschafft, ein harmonisches Gesamtbild der alles andere als harmonischen Entwicklung in Europa 1914–1949 zu entwerfen. Auf den zweiten Band, der den Faden der europäischen Geschichte bis in die Gegenwart weiterspinnen wird, darf man gespannt sein. Vielleicht lassen sich ja in der »Ära des Friedens« transnationale Austauschprozesse für eine europäische Geschichte häufiger nachzeichnen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Echternkamp, Rezension von/compte rendu de: Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder, 4. Aufl., München (DVA) 2016, 764 S., 14 Abb., 1 Kt., ISBN 978-3-421-04722-9, EUR 34,99. , in: Francia-Recensio 2018/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48517