Das »lange 1968 mit all seinen Überhöhungen und Mythen« sei ohne die Fernsehberichterstattung »nicht zu verstehen«, schreibt Stallmann am Ende seiner bei Edgar Wolfrum in Heidelberg entstandenen Dissertation. Das Fernsehen habe »den Protestakteuren seit den späten 1960er Jahren eine Medienbühne geboten, die sie bis heute nicht mehr verlassen haben« (S. 366). Dem kann man nur beipflichten. Umso verdienstvoller ist es, dass Stallmann, der schon aufgrund seines Geburtsjahrs 1982 nicht unter Nostalgieverdacht steht, die Berichterstattung insbesondere anlässlich der Jubiläen genauestens analysiert hat und zeigt, »wie, was und wozu« das Fernsehen zwischen 1977 und 1998 über die Protestgeschichte der späten 1960er Jahre erzählt hat. Denn Geschichte, daran erinnert er unter Berufung auf die einschlägige Forschung, geschehe nicht einfach, sondern sei vielmehr das »Ergebnis von Akten der Beobachtung, Beschreibung und Kommunikation« (S. 9).

In der umfänglichen Einleitung präsentiert Stallmann unter anderem sein Forschungsdesign und seine Grundannahmen, beispielsweise dass sich das Fernsehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine »zentrale Instanz der populären Geschichtsschreibung etabliert« habe – sehr zum Leidwesen vieler »professioneller« Historiker übrigens, die über die Konkurrenz keineswegs erfreut waren. Diese Form der »audiovisuellen Geschichtsschreibung« habe »ganz eigene Erzähl- und Darstellungsweisen sowie Erzähl- und Darstellungslogiken« herausgebildet (S. 34). Im Untersuchungszeitraum sei an die Stelle des »Erklärfernsehens« das »Erzählfernsehen« getreten: Die zeitgeschichtlichen Dokumentationen hätten »die Ausbreitung von Wissensbeständen reduziert und stattdessen eine ›Hinwendung zum Konkreten und Überschaubaren, zum Ereignis und Erlebnis, zum emotionalen Erinnern und Erzählen‹ vollzogen«, so ein Fernsehredakteur rückblickend (S. 35).

Stallmanns Studie gründet im Wesentlichen auf 40 Dokumentarfilmen und Diskussionsrunden, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – in der ARD und ihren angeschlossenen Sendern sowie im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) – gesendet wurden, daneben nutzt er ARD-interne Dokumentationen und Datenbanken, ZDF-Jahrbücher, ferner Printmedien wie den »Spiegel«, die »Zeit«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und die Programmzeitschrift »Hör zu«. Ungeachtet der so zusammengetragenen Fülle an Material, so Stallmann, habe sich die Sichtung und Beschaffung der Fernsehbeiträge als schwierig erwiesen, weil in Deutschland nach wie vor keine zentrale Einrichtung existiert, die Fernsehsendungen archiviert und der Forschung zugänglich macht. Umso mehr verdient die Rechercheleistung des Autors Anerkennung.

Stallmann unterscheidet vier Erzählmuster: »Generationengeschichte«, »Alteritätsgeschichte«, »Gewaltgeschichte« und »Personengeschichte«. Jedem dieser Muster widmet er ein Kapitel. Im ersten rekonstruiert er die Erfindung und Etablierung des Begriffs der »68er-Generation«, die in einen Zeitraum – nämlich die frühen 1980er Jahre – gefallen sei, in dem die Suche nach »Identität« und »Orientierung« ein bestimmender Leitdiskurs in der Bundesrepublik gewesen sei (S. 67). Zwar habe das Fernsehen das »Generationenetikett ›68er‹« nicht erfunden, doch habe es maßgeblich zur »massenwirksamen Verbreitung« beigetragen (S. 69).

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Erzählungen über das Anderssein von Individuen und das Anderswerden der Bundesrepublik insgesamt, das je nach Standpunkt als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung oder als begrüßenswerter Schritt in Richtung Liberalisierung und Demokratisierung empfunden wurde. Im dritten Kapitel untersucht der Autor, wie das Fernsehen über die Gewaltdimension der Proteste berichtete – gerade anlässlich des ersten »runden« Jubiläums 1977/78 ein höchst kontroverses Thema. In den meisten Beiträgen erschienen die ehemaligen Protestierenden erstaunlicherweise als die »alleinigen Gewaltopfer« (S. 299). Im letzten Kapitel beschreibt Stallmann die Personalisierung von »1968« am Beispiel Rudi Dutschkes – Personalisierung verstanden als »reduktionistischer Prozess«, bei dem »komplexe Zusammenhänge in einer Person gebündelt« werden (S. 303). Hier konstatiert er seit 1980 eine Tendenz zur »Heroisierung« und »Viktimisierung« Dutschkes (S. 351).

Stallmanns Darstellung überzeugt durch die Kombination zeitgeschichtlicher, medienwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Zugriffe auf das noch immer strittige Thema »1968«. Seinen abschließenden Befund, dass die Erzählweise des Fernsehens einer Trivialisierung des Gegenstands zu Lasten der »Ordnungs- und Orientierungsfunktion« Vorschub leiste (S. 365), mag man als Historiker bedauernd zur Kenntnis nehmen – doch anders lässt sich im Fernsehen heutzutage möglicherweise nicht mehr über geschichtswissenschaftliche Themen berichten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Martin Stallmann, Die Erfindung von »1968«. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977–1998, Göttingen (Wallstein) 2017, 412 S., 51 Abb. (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, 8), ISBN 978-3-8353-3099-3, EUR 39,90., in: Francia-Recensio 2018/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48526