Nach dem Verhältnis von Landesgeschichte und Kriminalitätsgeschichte zu fragen, mag überraschen. Die historische Kriminalitätsforschung ist in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1990er-Jahren etabliert und richtet sich traditionell vor allem auf die Epoche der Frühen Neuzeit aus. Sie argumentiert mehrheitlich auf der Basis von lokalen und regionalen Fallstudien, wie sie auch für die Landesgeschichte typisch sind. Begründet wird dies in der Regel aber gerade nicht mit einer landeshistorischen Perspektive, sondern vor allem durch pragmatische Überlegungen hinsichtlich der Quellenauswahl: Da die frühneuzeitliche deutsche Strafjustiz weitgehend territorial organisiert war, mit Ausnahme der größeren Städte, die – nicht nur im Fall der Reichsstädte – häufig selbst im Besitz der Hochgerichtsbarkeit waren, findet sich die relevante Quellenüberlieferung eben vor allem in den Stadt- und Staatsarchiven. Begünstigt wird die lokale bzw. regionale Orientierung zudem durch die methodischen Prägungen der Kriminalitätsgeschichte, die ihre Anregungen vor allem aus der Mikro- und Alltagsgeschichte bzw. der Historischen Anthropologie bezieht.
Dabei versteht sie sich jedoch immer als Teil einer allgemeinen Geschichte, deren Fragestellungen nicht primär landeshistorisch sind, sondern nach übergreifenden Erklärungen suchen. Auf der anderen Seite entspricht diesem Umstand der Befund, dass viele Landeshistorikerinnen und -historiker kriminalitätshistorische Arbeiten nur ausschnittweise wahrnehmen und selten als einen Beitrag zu ihrem genuinen Forschungsbereich betrachten.
Kurz: Kriminalitäts- und Landesgeschichte ignorieren sich bis dato weitgehend. Zu erkunden, was beide über den Blick auf das Regionale bzw. Lokale miteinander verbinden könnte, ist also nicht nur überraschend, sondern vor allem notwendig. Mit Spannung nimmt man deshalb den vorliegenden Band in die Hand, der aus einer im Oktober 2015 in Wildbad Kreuth veranstalteten Tagung hervorgegangen ist, und hofft, er möge bislang außer Acht gelassene gemeinsame Potentiale ausleuchten. Um es gleich vorweg zu nehmen: In dieser Hinsicht enttäuscht er auf ganzer Linie. Die vom Herausgeber verfasste »Themeneinführung« – von der zu erwarten gewesen wäre, dass sie eine solche Übersicht über die verbindenden Interessen zwischen beiden Forschungszweigen, über gemeinsame Fragestellungen, aber auch spezifische Perspektiven, die sich gegenseitig befruchten könnten, liefert – verblüfft vor allem durch ihre Kürze (4 Seiten) und referiert recht oberflächlich den bekannten Forschungsstand zur Kriminalitätsgeschichte. Für deren Annäherung mit der Landesgeschichte wird lediglich das bekannte Argument der territorialen Vielfalt des frühneuzeitlichen Deutschland und der damit verbundenen Quellenlage in Anschlag gebracht (S. XIV).
Gerd Schwerhoff resümiert in seinem Beitrag vor allem den aktuellen Stand der historischen Kriminalitätsforschung, greift immerhin aber die Frage nach deren Rolle in der landesgeschichtlichen Forschung kurz auf (S. 5f.): Zu Recht weist er darauf hin, dass kriminalitätshistorische Arbeiten aus den oben genannten Gründen oft auf landeshistorische Expertise angewiesen sind, was sich insbesondere am Beispiel der Hexenforschung zeigen lässt. Die Landesgeschichte wiederum könnte von der Einbindung der Kriminalitätsgeschichte in den internationalen Forschungskontext profitieren und ihre regional ausgerichteten Fragestellungen so mit einem überräumlichen Erklärungsanspruch verbinden.
Die weiteren Beiträge des Bandes – die sich in vier Sektionen gliedern: regionenübergreifend, Altbayern und Schwaben, Franken, Österreich und Schweiz – zeigen, zumindest teilweise, wo die Gewinne einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Landes- und Kriminalitätsgeschichte liegen könnten. Karl Härter etwa macht am Beispiel der grenzüberschreitenden Verfolgung von Vaganten und Räuberbanden deutlich, wie stark die territorial begrenzte Perspektive, wie sie auch die Landesgeschichte oftmals auszeichnet, einer angemessenen Erforschung der frühneuzeitlichen Strafverfolgungspraktiken entgegensteht. Kriminelle wussten die räumliche Fragmentierung des Alten Reichs durchaus zu ihren Gunsten zu nutzen, während sich die Obrigkeiten durch ihre jeweiligen Ansprüche auf Landeshoheit gegenseitig bremsten. Gleichzeitig wurden seit dem 16. Jahrhundert auf der Ebene des Reichs zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um eine territorienübergreifende Verfolgung von Verbrechen zu ermöglichen. Hier rückt also die Verbindung zwischen Territorial- und Reichsebene in den Blick, die in der Kriminalitätsgeschichte bislang weitgehend vernachlässigt wurde, in der landesgeschichtlichen Forschung hingegen (erinnert sei etwa an die Arbeiten zu den Reichskreisen) bereits Aufmerksamkeit gefunden hat. Darauf weist auch Wolfgang Wüst in seinem Beitrag zu den süddeutschen Arbeitshäusern hin, die weitgehend überregional funktionierten (wenn auch mit Schwierigkeiten).
Weitere gemeinsame Potentiale zwischen Landes- und Kriminalitätsgeschichte fächern die Beiträge von Stefan Breit (zu adeligen Hochgerichtsbezirken, die quer zur territorialen Strafjustiz lagen), Gerhard Fritz (zur öffentlichen Sicherheit im schwäbischen Reichskreis), Christof Paulus (zu Kriminalitätsgeschichte und Herrschaftsstrukturen in Franken), Marina Heller (zu Diebslisten im fränkischen Reichskreis) oder Gerhard Ammerer (zur Vagantenverfolgung im Habsburgerreich) auf. Die übrigen Beiträge beschäftigen sich mit einzelnen Delikten (Satu Lidman zur Verbindung von Alkohol und Gewalt in München, Markus Hirte zur Hexerei, Günter Dippold zum Diebstahl), kriminogenen Orten (Fabian Brändle zu Wirtshäusern und Kirmes in der Schweiz), bestimmten Institutionen (Dirk Brietzke zu Zucht- und Arbeitshäusern in norddeutschen Städten, Daniel Burger zu Forstgerichten) oder Einzelfallschilderungen (Michael Johannes Pils zu einer Brandstifterin in Schwabmünchen). Der Beitrag von Sabine Wüst zum Nürnberger Scharfrichter Meister Frantz lässt etwas ratlos zurück, weil es ihm nicht gelingt, deutlich zu machen, inwieweit er über den bereits erreichten Forschungsstand (vor allem die hervorragende Biografie von Joel F. Harrington) hinausgeht.
Insgesamt liegt also ein Band vor, der in seinen Einzelbeiträgen durchaus Erhellendes zu den möglichen Chancen einer stärkeren Kooperation von Kriminalitäts- und Landesgeschichte zu bieten hat, der auf der programmatischen Ebene jedoch weit hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Bretschneider Falk, Rezension von/compte rendu de: Wolfgang Wüst (Hg.), unter Mitarbeit von Marina Heller, Historische Kriminalitätsforschung in landesgeschichtlicher Perspektive. Fallstudien aus Bayern und seinen Nachbarländern 1500–1800. Referate der Tagung vom 14. bis 16. Oktober 2015 in Wildbad Kreuth, Stegaurach (Wissenschaftlicher Kommissionsverlag) 2017, XXII–360 S., div. Abb. (Franconia, 9), ISBN 978-3-940049-23-0, EUR 29,80., in: Francia-Recensio 2018/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48539