Victoria Blud sucht in der englischen Literatur vom 10. bis zum 15. Jahrhundert nach dem Konzept des »Unaussprechlichen«, das als deviant gebrandmarkte sexuelle Praktiken tabuisiert. Sie findet Folgen der Tabuisierung in der vorsichtigen Thematisierung sexueller Vergehen seitens religiöser Frauen in spirituellen Texten sowie in der literarischen Darstellung homo- bzw. transsexueller sowie queerer Personen und Praktiken. In vier thematischen Teilen setzt die Autorin aus verschiedenen Zeiten und Kontexten stammende Werke miteinander in Bezug und baut dabei auf der LGBTQ-Forschung der letzten Jahre auf.

Der erste Teil untersucht die aus dem 10. stammende altenglische Vita der heiligen Maria von Ägypten und das im 13. Jahrhundert verfasste Handbuch für Einsiedlerinnen »Ancrene Wisse« und fragt nach dem Verhältnis von Sprechen und Schweigen in Bezug auf die spirituell notwendige Thematisierung verbotener sexueller Praktiken. Blud zufolge wird hier das entscheidende Paradoxon der mittelalterlichen Beichte greifbar: Erst das Aussprechen des Unaussprechlichen mache durch die damit vollzogene Reinigung der Seele bzw. des als durchlässig wahrgenommenen weiblichen Körpers das Schweigen der Frauen möglich.

Der zweite Teil nimmt Alain de Lilles »De Planctu Naturae«, den »Roman de la Rose«, die Figur des Ablasshändlers aus den »Canterbury Tales«, die Geschichte der Iphis und Iante aus John Gowers »Confessio Amantis« und nicht zuletzt Heldris von Cornuälles »Roman de Silence« als Grundlage, um auf die Flexibilität einer mit der menschlichen Natur begründeten heterosexuellen Norm zu pochen. In der Gegenüberstellung zeigt sich, dass der Bezug auf die Natur bei Gower und Heldris von Cornuälle durchaus Spielraum für eine Anerkennung der prägenden Kraft der Erziehung auf die geschlechtliche Selbstfindung lässt.

Im dritten Teil stellt die Autorin einen Bezug zwischen Marie de Frances »Bisclavret« und dem altenglischen »Wulf and Eadwacer« her. Victoria Blud zufolge besteht in beiden Texten ein Zusammenhang zwischen der Verbannung eines Mannes und der einer Frau, die bislang übersehen wurde. Der Hinweis wendet sich gegen die Theorie des homo sacer von Giorgio Agamben, für den »Bisclavret« die Verbindung zwischen einem aus der Rechtsgemeinschaft ausgestoßenen Werwolf mit dem über dem Recht stehenden Herrscher aufzeigt. Die Frage, welche Schlüsse aus der Existenz einer weiblichen Exiliantin für die Theorie Agambens zu ziehen sind, bleibt die Autorin jedoch schuldig.

Am geschlossensten und am überzeugendsten ist der vierte Teil, was daran liegt, dass hier tatsächlich miteinander verbundene Texte verglichen werden. Eine intertextuelle Lektüre von Ovids, Chaucers und John Gowers Versionen der Geschichte Philomenas macht deutlich, wie wichtig Auslassungen für die Bedeutung einer Geschichte sind. Sie entscheiden darüber, ob die Vergewaltigung Philomenas und das Abschneiden ihrer Zunge durch ihren Schwager den gemeinsam mit ihrer Schwester vollzogenen Racheakt, ihren Neffen bzw. Sohn zu töten und ihm seinem Vater als Mahlzeit vorzusetzen, rechtfertigen oder nicht. Das Ende der Geschichte zu übergehen, wie Chaucer es tut, macht aus Philomena und ihrer Schwester hingegen hilflose Opfer, deren Duldsamkeit lobenswert ist. Die Tabuisierung weiblicher Gewalt dient damit der Zementierung weiblicher Unterwerfung.

Aus allen Darstellungen bzw. Interpretationen geht hervor, dass die normative Tabuisierung genügend Spielraum lässt, um das eigentlich Tabuisierte sichtbar werden zu lassen. Damit gelingt Blud der Nachweis, dass das angeblich Unaussprechliche nicht nur Anlass zum Sprechen gab, sondern auch kontrovers diskutiert wurde. Ob diese Infragestellung allerdings so präsent war wie behauptet, hängt von der Repräsentativität und der Zugänglichkeit der das Tabu brechenden Texte ab, die postuliert, aber nicht nachgewiesen wird.

Ebenfalls zweifelhaft bleibt, ob man aus diesem Ergebnis auf das Mittelalter im Allgemeinen schließen darf. Indem die Autorin den Sitz im Leben der sich an eine kulturelle Elite wendenden literarischen Schöpfungen außer Acht lässt und durch mehrere Jahrhunderte voneinander getrennte Werke parallel liest, bezieht sie sich auf eine Textwelt, die in Gefahr steht die Verbindung zur mittelalterlichen Realität zu verlieren. Auch gelegentliche Verweise auf Gerichtsprotokolle aus London oder Deutschland ändern daran nichts, denn für das Postulat einer Rückkehr des Verdrängten bleibt entscheidend, über welchen Handlungsspielraum ein mittelalterlicher Mensch an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit verfügte. Dass gleichzeitig in Deutschland punktuell Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten geübt wurde oder zwei Jahrhunderte vorher ein heterodoxer Text geschrieben worden war, der den kulturellen Eliten vielleicht noch in einer Kopie zugänglich war, ändert daran wenig.

Die aus historischer Sicht zu lässige Verwischung der Grenzen zwischen Literatur und Realität in der Konstruktion eines fünf Jahrhunderte überspannenden Diskurses geht auf den poststrukturalistischen Ansatz der Autorin zurück. Er prägt die Darstellung inhaltlich und sprachlich und macht die Lektüre für nicht poststrukturalistisch orientierte Leserinnen und Leser anstrengend. Die durch keine Verpflichtung zu einer einheitlichen Linie gezähmte Freude an gegensätzlichen Interpretationen macht es schwer, die Autorin auf eine bestimmte Position festzulegen. Beispielweise schwankt sie im ersten Kapitel zwischen einem Bezug auf die Beichte, auf die räumliche Marginalisierung von Frauen oder auf die Vorstellung des weiblichen Körpers als unvollkommen und durchlässig (ohne dafür immer konkrete Ansatzpunkte im Text zu liefern). Dabei werden kulturelles Wissen bzw. Kategorien vorausgesetzt, die keineswegs unanfechtbar sind.

Darf man die freiwillige Lebensbeichte einer Wüstenheiligen zur spirituellen Belehrung eines Priesters aus einem Text des 10. Jahrhunderts mit der Beichte einer Rekluse bei dem für ihre spirituelle Betreuung zuständigen Priester auf eine Stufe stellen? Auch die in die Untersuchung eingestreuten theoretischen Exkurse, die die Kritik der Gründungsmütter des feministischen Poststrukturalismus an der phallokratischen Theorie der poststrukturalistischen Gründungsväter wieder aufnehmen, scheinen überflüssig, weil sie kaum zum Verständnis der Texte betragen. Und nicht zuletzt ermüden bewusst paradox formulierte Wortspiele, wie z. B. »The condition of being (on) the ›inside‹ or the ›outside‹ […] is one that is continually subject to change and which changes its subject« (S. 56).

Wer so schreibt und argumentiert, läuft Gefahr, den Bezug zur eigenen In-Group über den Bezug zur Mediävistik als Ganzem zu stellen. Zu dieser Begrenzung des Horizonts passt, dass die nicht angelsächsische Forschung nur punktuell rezipiert wird. Der im Duktus und in den historiografischen Bezügen vollzogene Abbruch der Brücke zu einer gesamteuropäischen »Normalforschung« ist bedauerlich, weil das Buch zeigt, dass der Eingang von LBGTQ-Fragestellungen den Blick für mittelalterliche Tabus schärft, neue Werke ins Rampenlicht stellt und bislang nicht thematisierte Aspekte von gut erforschten Werken bzw. Autoren zum Vorschein bringt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Schuster Beate, Rezension von/compte rendu de: Victoria Blud, The Unspeakable, Gender and Sexuality in Medieval Literature, 1000–1400, Woodbridge, Suffolk (D. S. Brewer) 2017, X–212 p. (Gender in the Middle Ages, 12), ISBN 978-1-84384-468-6, GBP 60,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51750