Die meisten Artikel des vorliegenden Bandes basieren auf Vorträgen, die 2013 auf dem International Medieval Congress in Leeds gehalten wurden. Dessen Thema, »Pleasure«, führt der vorliegende, geschichtswissenschaftlich ausgerichtete Band auch in seinem Titel. Den Herausgeberinnen geht es mit den Beiträgen zur Emotionsforschung zugleich darum, der Vorstellung vom Mittelalter als einer »freudlosen Ära« und einer »Monokultur« entgegenzutreten. Die Frage nach dem, was im Mittelalter als »Vergnügen« bezeichnet (und empfunden) wurde, bietet sich für dieses Vorhaben an, birgt aber auch keine geringen Schwierigkeiten. Denn der Terminus »pleasure« umfasst, wie seine Äquivalente in anderen Sprachen, eine breite Skala von semantischen Valenzen und Schattierungen, die von je herrschenden kulturellen Praktiken und unterschiedlichen Redetraditionen geprägt sind.

Das so umrissene Problem ist den Autorinnen und Autoren des Bandes durchaus bewusst. Sie nehmen unverzichtbare definitorische Annäherungen an den Leitbegriff »pleasure« daher mit der gebotenen Umsicht vor. Auch die Frage nach semantischen Differenzen und Äquivalenzen von mittelalterlichen und modernen Emotionswörtern spielt in allen Beiträgen eine wichtige Rolle. Ein solch vorsichtiger Zugriff erscheint umso angemessener, als die Studien einem weiten Zeitraum (9.–15. Jh.) gelten und sich auf unterschiedliche Kulturen, gesellschaftliche Bereiche und Ebenen beziehen. In der Gliederung des Bandes in drei Teile (»Pleasured Bodies«, »Didactic Pleasures«, »Pleasures in God«) zeichnet sich eine Fokussierung auf Aspekte ab, die im Mittelalter in vielfacher Weise verwoben sind. Das vordergründig einigende religiöse Band kann jedoch, wie deutlich wird, nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Praktiken wie in den Auffassungen über den Körper und lustvolle Empfindungen – womit das Verhältnis von Leib, Seele und Geist maßgeblich tangiert wird – erhebliche Unterschiede bestanden haben. Während »Vergnügen«, wie in mehreren Beiträgen betont wird, in der augustinischen Tradition mit dem Leib und mit Sünde assoziiert und verurteilt wurde, erfährt der Körper im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts eine Aufwertung, die mit einer veränderten Einstellung zu Lust einhergeht.

Die Relation von Leib und Lust wird, wie die Beiträge zeigen, je nach Kontext und Zielrichtung unterschiedlich konturiert. Im Bereich der Medizin etwa steht der Zusammenhang von Gesundheit, Moral und Vergnügen im Zentrum (Fernando Salmón, Naama Cohen-Hanegbi), während in der Seelsorge Vergnügliches als emotionales Hilfsmittel bei der Vermittlung von christlichen Lehren genutzt wird (Xavier Biron-Ouellet). Die Komplexität von angenehmen Empfindungen wiederum zeigt sich dort besonders nachdrücklich, wo diese von gegenläufigen Bewegungen und Widersprüchen bestimmt werden. So stimuliert die Betrachtung von (leider nur schwarz-weiß abgedruckten) Illustrationen in einem Gebetbuch lustvolle Gefühle (Maeve Doyle), welche dazu angetan sind, die in den Texten vermittelten asketischen Normen zu unterminieren, bestehen komplexe Relationen zwischen Vergnügen und Sünde (Richard Newhauser) oder fördert die Darstellung von Höllenqualen in geistlichen Spielen die Lust am Leiden anderer (Élise Dupras).

Ein eigenes Feld für die Erzeugung, Vermittlung und das »Management« von Gefühlen bildet die mittelalterliche Bibelexegese, die mit dem Verfahren des vierfachen Schriftsinns einen Imaginationsraum eröffnet, in dem die Ebenen des Spirituellen und des Sinnlichen zwar theoretisch getrennt sind, sich aber gleichwohl überlagern und in unterschiedliche Spannungsverhältnisse treten, sodass das Verhältnis von Körperlichem und Spirituellem dynamisiert wird (vgl. dazu besonders die Beiträge zum dritten Teil, »Pleasures in God«). Hervorzuheben ist, dass der Blick mit einer Studie zur arabischen Kultur (Karen Moukheiber) punktuell über die westliche, christlich geprägte europäische Kultur hinausgeht. Es wäre die Aufgabe zukünftiger Forschungen, solche Studien zu vertiefen und sie in eine komparatistische Perspektive zu rücken.

Die gewonnenen Erkenntnisse sind zwar nicht alle überraschend, aber indem die Beiträge die Dynamik betonen, die das Verhältnis von Körper, Geist und Seele mit Blick auf angenehme Empfindungen kennzeichnet, setzen sie deutlich neue Akzente. Insgesamt erscheint das, was »angenehme Gefühle« auslöst, außerordentlich schillernd: von sexueller und spiritueller Lust über ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen bis hin zu einem Wohlbehagen an normativen Vorgaben, die geordnete Verhältnisse versprechen.

Auffallend ist, dass die Auseinandersetzung mit neueren Theorieansätzen der Emotionsforschung eher selten gesucht wird. Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Beitrag von William Reddy, der modellhaft skizziert, welche Versuchsanordnungen die Emotionsforschung in den modernen Neurowissenschaften bestimmen und der diese mit mittelalterlichen Vorstellungen kontrastiert. Nachdrücklich verweist er darauf, welche zentrale Bedeutung die Sprache und der kulturelle Kontext für das Verständnis von Emotionen haben. Damit macht er auf eine Leerstelle in den Neurowissenschaften aufmerksam und markiert es so als ureigene Aufgabe der historischen und philologischen Disziplinen, diese Leerstelle in der Emotionsforschung auszufüllen. Das heißt zugleich, dass der Beitrag, den die verschiedenen Disziplinen zu diesem Wissensgebiet leisten können, jeweils durch das leitende Erkenntnisinteresse und die Methodik bedingt und entsprechend begrenzt ist. Eine Sensibilität für diese disziplinäre Begrenztheit lässt sich am besten im interdisziplinären Dialog entwickeln und schärfen, der deshalb für die Emotionsforschung unerlässlich ist (und nicht nur für diese), weil dadurch auch das Bewusstsein für die Leistungsfähigkeit jeder Einzeldisziplin gestärkt wird.

Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des Bandes, dass er zur Förderung dieses Bewusstseins beiträgt. Das weitere von den Herausgeberinnen gesetzte Ziel wird ebenfalls nicht verfehlt: Es wäre zu kurz geschlossen, die Alterität der mittelalterlichen Kultur an fehlender Diversität oder einem Mangel an Komplexität im Denken über das Verhältnis von Leib und Lust festzumachen. Sie manifestiert sich auf andere Weise, etwa in der starken Betonung des normativen Aspekts, die sich in der engen Verbindung von Emotionen mit Tugenden und Lastern zeigt. Die Frage nach der Alterität der Emotionskultur des Mittelalters steht gleichwohl weiterhin auf der Agenda. Wie sich historische Fallanalysen mit systematischen Erkenntnisinteressen vermitteln lassen, bleibt dabei ein zentrales Problem.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ingrid Kasten, Rezension von/compte rendu de: Naama Cohen-Hanegbi, Piroska Nagy (ed.), Pleasure in the Middle Ages, Turnhout (Brepols) 2018, XXIV–383 p., 10 b/w ill. (International Medieval Research, 24), ISBN 978-2-503-57520-9, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51758