Bei der von Pierre-Henri Guittonneau vorgelegten Monografie handelt es sich um die Publikation einer Dissertation der Universität Paris IV-Sorbonne (2014). Am Anfang steht ein Vorwort von Élisabeth Crouzet-Pavan, das prägnant die Thematik und ihre Schwerpunkte vorstellt. In den letzten Jahrzehnten wurden in Frankreich eine Reihe von Untersuchungen zu einzelnen Städten veröffentlicht, aber weitaus weniger zu Städtenetzen. Die Studie leistet insofern einen sehr wichtigen Beitrag dazu, diese Lücke zu schließen. Abgesehen von der Stadtgeschichte knüpft sie auch an Forschungen zu Flüssen und Häfen, wie den aus einer Tagung des französischen Mediävistenverbandes hervorgegangenen Band »Ports maritimes et ports fluviaux au Moyen Âge«1 oder die Studien zu einzelnen Flüssen wie der Rhône2 oder der Maas3, an.
Der Titel »im Schatten der Hauptstadt« gibt bereits einen Hinweis auf Ergebnisse: Die Kleinstädte der Pariser Umgebung standen in vieler Hinsicht tatsächlich im Schatten der mittelalterlichen Metropole. Dem Autor gelingt es jedoch auch zu zeigen, über welche Handlungsspielräume sie verfügten bzw. welche Bedeutung sie, besonders in Kriegszeiten, durch ihre strategisch wichtige Lage für die Verteidigung und Versorgung der Hauptstadt spielen konnten. Von Einleitung und Abschlussbilanz umrahmt, gliedert sich die Darstellung in vier große Sektionen, die jeweils in zwei Kapitel (mit mehreren Unterkapiteln) gegliedert sind.
Der erste Abschnitt stellt das behandelte Städtenetz vor und beschreibt seine Zusammensetzung und geografische Ausdehnung sowie seine natürlichen Gegebenheiten und die hierarchischen Einordnungen und Klassifizierungen durch Zeitgenossen und Geschichtswissenschaft. Der zweite Teil widmet sich den Beziehungen der Städte zur prévôté des marchands und der Frage, wie sich deren Kontrolle und Rechtsprechungskompetenzen für sie auswirkten. Der dritte Teil beschäftigt sich mit den Beziehungen der kleinen Städte zu Paris: Beitrag zur Lebensmittel- und Rohstoffversorgung, Rolle für die Verteidigung in Kriegszeiten, personale Beziehungen zwischen den Einwohnern (Geschäfts- und Familienbeziehungen, Erbschaften, Kredite, Konflikte, Zusammenarbeit, Rechtsberatung, Haus- und Grundbesitz etc.). Der vierte und letzte Teil untersucht die Beziehungen der kleinen Städte zum König, seinen Amtsträgern und den zentralen königlichen Institutionen und Gerichten in Paris (parlement, chambre des comptes, cours des aides etc.) einschließlich der damit verbundenen Reisen und Gesandtschaften. In geografischer Hinsicht behandelt die Monografie in einem Umkreis von ca. 50 km von Paris gelegene Flusstäler und deren Städte. Von den ca. 200 infrage kommenden Orten wählt der Autor schwerpunktmäßig folgende Städte aus: Mantes, Meulan, Pontoise, Poissy, Saint-Denis, Meaux, Lagny, Étampes, Melun und Corbeil.
Die noch vorhandene Quellenüberlieferung ist in vielen Fällen sehr lückenhaft. Die für die jeweilige Stadt verfügbaren Quellen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Gattung und Chronologie erheblich, was die Vergleichbarkeit stark erschwert. Der Autor stützt sich infolgedessen auf die Zusammenschau verschiedenster Quellentypen und auf umfangreiche Archivrecherchen in zahlreichen lokalen und zentralen Beständen (Departements- und Kommunalarchive, Archives nationales, Bibliothèque nationale). Berücksichtigt werden städtische Quellen wie Beratungsregister (Mantes), Notariatsquellen (Mantes, Paris), Prozesse vor parlement, cours des aides, châtelet und weiteren Gerichten, Konten und eine Fülle von einzeln überlieferten Dokumenten. Aufgrund der beschriebenen Überlieferungslücken und der Unterschiede der für die jeweilige Einzelstadt verfügbaren Materialbasis ist es jedoch häufig erforderlich, auf Fallstudien zurückzugreifen. Besonders interessant sind die für Mantes untersuchten Konflikte, die den Schluss nahelegen, dass der 1542 und 1552 durch königliche Maßnahmen eingetretene Verlust von Autonomierechten letztlich vor allem ein Ergebnis innerstädtischer Konflikte war. Grundlegende Bedeutung für die Einflussmöglichkeiten von Paris und die Regelung des Schiffsverkehrs auf der Seine hatte die umfangreiche ordonnance von 1416, obwohl sie in Bezug auf ihren räumlichen Anwendungsbereich keine präzisen Aussagen trifft.
Insgesamt gesehen zeigt die Studie den beherrschenden Einfluss von Paris auf sein Umland. Dabei spielte die Funktion von Paris als Sitz von Gerichten und zentralen Institutionen des Königreichs bereits eine entscheidende Rolle. Im Mittelpunkt der dazu vorgestellten Fallbeispiele stehen Streitigkeiten und Prozesse aus dem Bereich der Finanzen und Abgaben. Wie im Verhältnis zum Königtum wurden die damit verbundenen starken Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten Pariser Institutionen und dort ansässiger königlicher Gerichte jedoch durch Perioden der Interessenidentität abgemildert. So war beispielsweise der Wiederaufbau nach Kriegsverwüstungen und die Neubewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen, der die Ernährungslage der Kleinstädte, aber auch von Paris verbesserte, ein gemeinsames Anliegen. Zu Zeiten, in denen Paris und die Kleinstädte unterschiedlichen Herrschaftsbereichen angehörten (Engländer bzw. Angloburgunder und Dauphin) ergaben sich jedoch Probleme. Feindliche Garnisonen in unmittelbarer Umgebung und in benachbarten Städten und Belagerungen stellten ein erstrangiges Sicherheitsrisiko dar – sogar für Paris.
Durch die breit gestreute Quellenbasis bietet das Buch unterschiedlichen Leserkreisen sehr interessanten Lektürestoff. Die Teile zu den auf den Wasserwegen erhobenen Zöllen und Abgaben, zu Reisedauer und möglichen Etappen, städtischen Einkünften und Baumaßnahmen, zu Versuchen, die Schiffbarkeit zu verbessern, zu Hansen der Seine-Kaufleute und Transporteure, der Zahl der abgefertigten Schiffe etc. sind für Wirtschafts- und Verkehrshistoriker von Interesse. Ausführungen zu Prozessen, Konfliktlösungsmechanismen, Rechtsberatung, Wahlen etc. sprechen auch Rechts- und Verfassungshistoriker an. Besonders erwähnenswert ist, dass der Autor aufgrund einer ausgedehnten Auswertung der Sekundärliteratur immer wieder Vergleiche zu anderen französischen und europäischen Regionen zieht und seine Befunde damit in einen größeren Rahmen einordnet. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Unterschied zu deutschen Städten. Es hat sich für die untersuchte französische Region fast keine zwischenstädtische Korrespondenz erhalten und es kam auch nicht zur Ausbildung einer dauerhaften zwischenstädtischen Kooperation in Form von Bünden und Allianzen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Pierre-Henri Guittonneau, Dans l’ombre de la capitale. Les petites villes sur l’eau et Paris au XVe siècle, Paris (Classiques Garnier) 2016, 829 p. (Bibliothèque d’histoire médiévale, 17), ISBN 978-2-406-05894-6, EUR 64,00. , in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51761