Ab dem 12. Jahrhundert bedienen sich Autoren aus dem Umkreis der Abtei Cluny wie später auch die Zisterzienser vermehrt der literarischen Form des Exemplums, um paränetisch nach innen und propagandistisch nach außen zu wirken. Abt Petrus Venerabilis stellt mit »De miraculis libri duo« treffende Beispiele für die Wirksamkeit der cluniacensischen Totenmemoria zusammen, während er gleichzeitig versucht, diese für den Verband wichtige »Erwerbsquelle« auch wirtschaftlich neu auszurichten. Bernard de Morlaix (Bernard le Clunisien) verweist in seinem Werk »De contemptu mundi« in dramatischen Bildern auf die Gefahren des Jüngsten Gerichts und beklagt ebenso in einem kürzeren Gedicht die Vergänglichkeit des Menschen1.

Vor diesem Hintergrund ist auch das im vorliegenden Band edierte Gedicht eines anonymen Verfassers zu sehen, das offenbar singulär im Anhang einer um 1200 wohl im Zisterzienserkloster Notre-Dame de Signy (dép. Ardennes) entstandenen Handschrift überliefert ist (Charleville-Mézières, Bibl. mun. [jetzt: Médiathèque Voyelle de Charleville-Mézières], ms. 190, f. 144r–149v, Beschreibung S. 16–19)2. Der im Manuskript verzeichnete Titel des Werkes »Ex relatione sancti Maioli abbatis de duobus ducibus« wird in der Edition verkürzt zu »Relatio metrica de duobus ducibus«.

Die Kernerzählung von den beiden sich bekriegenden Herzögen ist seit der Mitte des 12. Jahrhunderts vor allem in der zisterziensischen Exempelliteratur verbreitet. Sie wird hier allerdings in einen überdeutlich cluniacensischen Zusammenhang gestellt. Stärker als die bisher genannten zeitgenössischen Werke zum monastischen Gedenkwesen stellt dieses mehr als 800 Zeilen umfassende Poem damit eine Verbindung her zwischen früher cluniacensischer Tradition (fiktive Predigt des Abtes Maiolus † 994) und der vorgeblich besonderen Wirksamkeit des cluniacensischen Gebetsgedenkens (nachgewiesen durch visionsähnliche Berichte). Der sorgfältig redigierte Band präsentiert sich als Gemeinschaftsarbeit von Scott G. Bruce als Historiker und Cristopher A. Jones als Philologe.

Das Gedicht beginnt mit einer Lobpreisung des Maiolus von Cluny, stellt dessen Qualität als Abt und Reformer heraus (Pectore uiuaci tenuit regimen Cluniaci, v. 19; Maioli cura claustris dedit aurea iura, v. 29) und hebt als sein besonderes Anliegen das Gebet für die Verstorbenen hervor (quod prece quodque datis uiuorum prosit humatis, v. 56). Nach einer Selbstreflexion über seine Rolle als christlicher Autor beginnt der Verfasser, die als Erzählung des Maiolus vorgestellte Geschichte zu entwickeln (Maioli dicta curabo, / non leue figmentum sed morigerum documentum, v. 90f.). Die Schilderungen der Auseinandersetzungen zwischen den beiden titelgebenden Herzögen bilden in der Folge den Hintergrund zu einer großartigen theologisch-philosophischen Erörterung. Das Hauptthema ist die Sinnhaftigkeit des Gebetsgedenkens, denn einer der beiden Herzöge kann mit Unterstützung durch ein zu Zigtausenden zählendes Heer von weißgewandeten Kriegern siegen; das waren, so die Aussage der Legende, die Seelen der von ihm durch Gebet und Almosen geretteten Verstorbenen.

Die beiden Protagonisten werden antipodisch geschildert: Eusebius, Herzog von Sardinien, sammelt mit Almosen und Messfeiern Schätze im Himmel, statt Gold anzuhäufen (Tam bene moratus fuit Eusebius memoratus / tam bene uiuebat, quod erat uirtutis agebat, v. 328f.). Sein Widersacher, der als hartherzig und grausam dargestellte Ostorgius, Herzog von Sizilien (Perfidus ut uentus, uir iniquus uirque cruentus, v. 334), bemächtigt sich der Stadt des Eusebius und zwingt ihn damit zum Kampf. Diesem kommt aber die »himmlische« Streitmacht von 60 000 weißen Rittern zu Hilfe (et bellatores, omnes niue candidiores, v. 462; milia clarorum bene sexaginta uirorum, v. 467) und entscheidet damit die Schlacht zu seinen Gunsten.

Neben dieser knappen aus dem bekannten Exemplum übernommenen Handlung entwickelt das Gedicht eine Theologie des Purgatoriums und beschreibt das Schicksal der Seelen im Jenseits; über die Verknüpfung des Totengedenkens in den alttestamentlichen Makkabäer-Büchern mit »De laude novae militiae« des Bernhard von Clairvaux werden die Ideale christlichen Rittertums (militia Christi) beschrieben; die von Ostorgius überfallene Stadt des Eusebius wird mit Jerusalem (urbs Dei) verglichen und der Kampf damit in die Nähe der Kreuzzugsbewegung gerückt. Auffällig ist die Verwendung zahlreicher Bilder und Begriffe aus der klassisch-antiken Literatur. Vergleiche mit dem Trojanischen Krieg verweisen auf die Benutzung des lateinischen Troja-Romans (»De excidio Troiae historia«) des Dares Phrygius.

Die Herausgeber des Bandes sprechen im Untertitel zutreffend von einem »Cluniac Poem on Prayer for the Dead«. Diese richtige, aber bescheidene Umschreibung wird der umfassenden Vielfalt und dem weiten Horizont der im Gedicht entwickelten Ideen allerdings kaum gerecht. In Wahrheit wird das Thema des Gebetsgedenkens nur zum Anlass genommen, vor dem immer wieder aufgezeigten Hintergrund einer stupenden Bildung gewissermaßen eine Zusammenfassung cluniacensischer Ideologie zu entwickeln, die in gleicher Weise monastische Spiritualität wie laikale Tugenden beschreibt. Zukünftige Forschungen könnten untersuchen, welches Ziel dieser Text in der Krisensituation des 12. Jahrhunderts verfolgte.

Ausführlich erläutert die Einleitung die Besonderheit der cluniacensischen Totenmemoria und weist die Herkunft von Textvorbildern und Zitaten aus dem Alten Testament und der klassischen Literatur nach. Ein breites Kapitel ist stilistischen Besonderheiten des Dichtwerkes gewidmet (leoninische Hexameter, teils mit Reim). Rhetorische Figuren werden in Statistiken dargestellt. Vergleichende Analysen der Verstypen verweisen auf Ähnlichkeiten mit klassischen oder mittelalterlichen Werken. Für die von den Herausgebern nicht endgültig geklärte Frage nach dem Autor der »Relatio metrica« werden zahlreiche Argumente zusammengetragen, die eine gute Grundlage für weitere Fachdiskussionen bieten können. Die Herausgeber selbst bringen als mögliche Verfasser neben dem bereits erwähnten Bernard de Morlaix einen mit zahlreichen Textbeispielen näher beschriebenen Bernardus scriba, der auch als Verfasser eines Vers-Kolophons zur »Historia regum Britanniae« des Geoffrey von Monmouth angesehen wird, in die Diskussion ein, lassen aber auch eine mögliche Identität der beiden Dichter offen.

Die sorgfältige Edition mit englischer Prosaübersetzung (S. 76–119) wird ergänzt durch einen ausführlichen Zeilenkommentar (S. 121–171). Allerdings erschließen sich viele nützliche und sachgerechte Kommentare und Stilerläuterungen nur, wenn auch die kenntnisreichen Einleitungsseiten (S. 1–73) gelesen werden. Verweise zwischen diesen Teilen sind selten, möglich ist aber auch ein Auffinden durch Benutzung der Indices (S. 203–212).

Im Anhang (S. 173–180) wird das Gedicht ergänzt durch den Abdruck der aus mehreren Handschriften bekannten Prosa-Fassung des Exempla-Stoffes (»Relatio de duobus ducibus inter se altercantibus«). Grundlage sind hier folgende Handschriften: 1. Valenciennes, Bibl. mun., ms. 516, f. 116v–117r; 2. Douai, Bibl. mun., ms. 313, f. 126v–128r; 3. Metz, Bibl. mun., ms. 627, f. 96v–102v (S. 173 fälschlich 95v–101v)3. Ein Literaturverzeichnis, ein Index der Bibelzitate, ein umfangreiches Verzeichnis der Textparallelen aus mittelalterlichen und klassischen Werken sowie ein knapper »General Index« beschließen den Band.

Den Herausgebern ist zu danken, dass dieser Text mit seinen vielfältigen Aspekten monastischer Kultur des 12. Jahrhunderts der Forschung endlich in einer kritischen Edition zur Verfügung gestellt ist. Seine Inhalte, sein Ideenreichtum verdienen die Aufmerksamkeit mehrerer Fächer.

1 Scott Gordon Bruce, Nunc homo, cras humus. A Twelfth-Century Cluniac Poem on the Certainty of Death (Troyes, Médiathèque de l’agglomeration troyenne 918, fols. 78v–79v), in: The Journal of Medieval Latin 17 (2007), S. 95–110.
2 Die »Bibliothèque virtuelle des manuscrits médiévaux« (BVMM) des IRHT bietet einen vollständigen Scan der Handschrift: https://tinyurl.com/yay2c4pl (08.08.2018).
3 Zugänglich auf den Seiten des IRHT: https://tinyurl.com/y9whpkx4 (08.08.2018).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Cristopher A. Jones, Scott G. Bruce (ed.), The Relatio metrica de duobus ducibus. A Twelfth-Century Cluniac Poem on Prayer for the Dead, Turnhout (Brepols) 2016, XII–216 p., 4 b/w tabl. (Publications of the Journal of Medieval Latin, 10), ISBN 978-2-503-56827-0, EUR 85,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51767