Die vorliegende Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Kontroverse zwischen Michel Villey und Brian Tierney. Villey hatte seit Anfang der 1960er Jahre die moderne Auffassung von Menschenrechten kritisiert und dabei ihre historische Kontingenz betont; bis ins 14. Jahrhundert habe es in der westlichen Rechtsgeschichte keine oder jedenfalls keine nennenswerten subjektiven Rechte gegeben, sondern habe ius stets ein objektives Recht, konkret meist eine Mehrzahl von Rechtsnormen, gemeint.

Tierney hingegen hat die von Villey kaum beachtete mittelalterliche Kanonistik für die Vorgeschichte der modernen Menschenrechte stark gemacht und insbesondere auf die (bereits von Juristen des 12. Jahrhunderts thematisierte) Doppeldeutigkeit von ius sowohl im Sinne von Gesetz (englisch law) als eben auch im Sinne eines individuellen Rechts (right) hingewiesen. Thierry Sol nun will, wie er im ersten Kapitel ausführt, näher untersuchen, was »subjektive Rechte« in den kanonistischen Debatten des 12. Jahrhunderts überhaupt meinten, und tut dies anhand von Fragen des Sakramentenrechts wie der Wiederholbarkeit der von Häretikern und Schismatikern gespendeten Sakramente und den Befugnissen von Mönchen, die die Priesterweihe empfangen haben.

Daraus ergibt sich, dass das forschungsgeschichtliche zweite Kapitel nicht der Ideengeschichte der Menschenrechte, sondern vor allem der Frage nach der gültigen Spendung von Weihen und anderen Sakramenten gewidmet ist – völlig zu Recht setzt Sol hier mit einer Rekapitulation der Thesen Rudolph Sohms ein. Das Kapitel nennt und referiert außerdem zahlreiche neuere Arbeiten zu dem in zwei Fassungen überlieferten »Decretum Gratiani« (Winroth, Lenherr, Wei, Larson).

Die wichtigste Erkenntnis der Forschung seit den 1990er Jahren, dass beide Fassungen auf unterschiedliche Quellen zurückgreifen und sich insbesondere im Sakramentenrecht stark unterscheiden, ist Sol also bekannt; leider findet sie weder im zweiten Kapitel noch im dritten Kapitel Anwendung, wo stattdessen die beiden Fassungen des »Decretum Gratiani« als ein homogenes Werk behandelt werden. Dem Gesamtergebnis des dritten Kapitels wird man dabei nicht widersprechen wollen, wenn Sol betont, dass Gratian die heterogenen Traditionen teilweise, aber keineswegs vollständig harmonisiert habe und dabei die schon seit Augustinus weit verbreitete Position noch einmal bekräftigte, dass auch von Unwürdigen gespendete Weihen grundsätzlich gültig seien.

Dennoch hat man beim Lesen erst der Referate der Forschung (vor allem S. 43–56) und dann der Analysen (S. 56–61 und Kap. 3) das deutliche Gefühl, dass die Aussagen zu den theologischen Quellen des »Decretum« und zur Verwendung zentraler Begriffe an Schärfe hätten gewinnen können, wenn die gerade im Sakramentenrecht starken Abweichungen zwischen beiden Fassungen des »Decretum Gratiani« nicht nur erwähnt, sondern auch bei der Analyse berücksichtigt worden wären.

Das vierte und fünfte Kapitel untersuchen das Sakramentenrecht bzw. speziell das Weiherecht, wie es die Dekretisten in Anschluss an Gratian entwickelten. Die Analyse bewegt sich hier auf sicherem Grund und wird durch ausführliche Zitate nachvollziehbar gestaltet. Ausgehend von der im »Decretum Gratiani« angelegten Unterscheidung von potestas einerseits und executio potestatis andererseits argumentierten die Kanonisten, dass die qua Weihe erworbene Befähigung zur Sakramentenspendung von den Bedingungen der Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Befähigung zu unterscheiden sei. Genau diese außerhalb der Person des Spenders liegenden Bedingungen wiederum lassen Sol von einem »objektiven Recht« reden, das gegen Tierney die entscheidende Rolle spiele:

»La célébration juste du sacrement dépend d’une fonction attribuée par l’Église en considération d’éléments objectifs: gratuité de l’acte, incorporation réelle du ministre à l’Église lorsqu’il célèbre le sacrement, réception sincère. C’est précisément parce qu’intervient l’executio potestatis, détermination extérieure au ministre et à la potestas, que l’on peut dire que notre auteur [de la »Summa Parisiensis«, CR] s’appuie une conception objective du droit« (S. 147).

Das hätte nun Tierney nicht bestritten, aber für Sol ist es ein entscheidendes Argument, von einem überwiegend objektiven Verständnis von Recht zu sprechen.

Kapitel sechs widmet sich der Weihe von Mönchen, der sogenannten absoluten Ordination (ohne Einsetzung in ein Amt) und die Amtseinsetzung durch einen nicht zuständigen Bischof. Allen Fällen ist gemeinsam, dass der jeweilige Geistliche zwar die potestas besitzt, die executio potestatis aber jeweils strittig war. Im Fall der geweihten Mönche hatte Gratian dies in zwei berühmten dicta selbst für die pfarramtliche Betätigung in klösterlichen Eigenkirchen von der bischöflichen Einsetzung abhängig gemacht (C. 16., q. 1, d. p .c. 19 und 25), ein Kompromiss zwischen den traditionellen Aufsichtsrechten der Ortsbischöfe und der relativ neuen seelsorgerischen Betätigung vieler Mönche. Die absolute Ordination hingegen hatte Gratian als ungültig angesehen, im deutlichen Gegensatz zu einer Weihe durch einen nicht zuständigen Bischof, die er als einen heilbaren Formfehler ansah. Die sehr ausführlichen Debatten dieser Punkte sind für Sol ein Beleg für den »objektiven« Charakter der Rechtsauffassung des 12. Jahrhunderts (S. 218, 221, 228, 235, 247f.).

Im siebten Kapitel geht Sol auf die Diskussionen zur Absetzung von Amtsträgern durch häretische Bischöfe ein. Auch hier unterschieden Gratian und ihm folgend die Kanonisten des 12. Jahrhunderts zwischen der potestas (die auch Häretiker behielten), der legitimen Ausübung derselben (die sie verloren) und der weitgehenden Wirkungslosigkeit ihrer Amtshandlungen, die daraus folgten. Angesichts der Aufarbeitung dieser Fragen insbesondere durch Titus Lenherr, dem er weitgehend folgt, kann Sol sich in diesem Kapitel kurz halten und betont abermals vor allem die Bedeutung einer objektiven Rechtsauffassung (S. 258, 264, 272–274).

In den »Conclusions« fasst Sol seine Ergebnisse zusammen. Dabei spricht er sich deutlich dafür aus, trotz Gratians terminologischer Ungenauigkeiten die wesentliche juristische Weichenstellung bereits im »Decretum« und nicht etwa erst bei den Dekretisten zu sehen (S. 281). Außerdem betont er noch einmal, ebenfalls in deutlichen Worten, dass damit Tierneys Thesen von der hohen Relevanz subjektiver Rechte in den kanonistischen Debatten widerlegt seien (»le défi de Tierney«, S. 277). Allerdings muss er einräumen, dass Tierney keineswegs vom Sakramentenrecht gesprochen hatte (S. 278) und seine Hinweise auf den Sprachgebrauch von ius auch im Sinne von rights durchaus zutreffen (S. 279). Entscheidend aber sei, so Sol, dass die Unterscheidung von potestas und executio potestatis eine Stärkung von ius im objektiven Sinne bedeutet habe, und zwar trotz des oft auf das Rechtssubjekt bezogenen Vokabulars (»Cette conception objective [du droit, CR] […] s’accomode sans difficulté d’un vocabulaire subjectivement façonné«, S. 294).

Insgesamt fällt auf, wie stark Sol einerseits die Debatte zwischen Tierney und Villey als Rahmen seiner Untersuchung angibt, sich aber von beiden Kontrahenten thematisch weit entfernt: Tierney wird zwar vergleichsweise häufig erwähnt, hingegen die ihn am Kirchenrecht beinahe ausschließlich interessierende Frage der Menschenrechte nicht weiter thematisiert. Villey hingegen, zu dessen Rehabilitation Sol offenbar beitragen will, wird beinahe nur insoweit erwähnt, wie Tierney ihn kritisiert hatte. Es bleibt die verbindende Frage nach der Rolle subjektiver Rechte, eine Frage, die für das Mittelalter ohne Zweifel nur unter Berücksichtigung der kanonistischen Debatten untersucht werden kann.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christof Rolker, Rezension von/compte rendu de: Thierry Sol, Droit subjectif ou droit objectif? La notion de »ius« en droit sacramentaire au XIIe siècle, Turnhout (Brepols) 2017, 331 p. (Political Theology. Historical and Theoretical Perspectives, 2), ISBN 978-2-503-57602-2, EUR 80,00. , in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51779