Eines der hartnäckigsten Vorurteile gegenüber dem Mittelalter besagt, dass diese Epoche noch keine positive Vorstellung von Individualität gekannt habe: Gebunden in hierarchisch organisierten Kollektiven hätten die Menschen damals nicht die Freiheit besessen, selbstbestimmt zu denken und zu handeln. Erst in der Neuzeit, der Renaissance, hätten sich die Menschen aus den »Fesseln« der Kirche und des starren Feudalsystems befreien können. Erst jetzt, so das Vorurteil weiter, seien auch einzelne hervorragende Wissenschaftler und Künstler aus der allgemeinen Anonymität getreten: Aus dem demütigen Handwerker des Mittelalters wurde so der selbstbewusste Künstler der Neuzeit.
Dass dieses einfache Narrativ ideologisch fundiert ist und den historischen Realitäten keinesfalls gerecht wird, hat die (kunst-)historische Forschung nun schon seit Längerem erkannt. Ausführlich untersucht und gewürdigt wurden etwa die zahlreichen Künstlersignaturen aus romanischer Zeit, die von einem durchaus starken, individuellen Selbstbewusstsein zeugen. Bereits aus den Quellen des frühen Mittelalters sind weiterhin Persönlichkeiten bekannt, deren handwerkliche Künste gerühmt und deren Andenken über Jahrhunderte gepflegt wurde. Umso erstaunlicher mag es da erscheinen, dass wissenschaftliche Bücher nach wie vor rar sind, die sich mit dem Leben und Werk eines einzelnen Künstlers des frühen Mittelalters befassen.
Eine schöne Ausnahme bildet der von David Ganz und Cornel Dora publizierte Band: Die hier versammelten Beiträge stellen das Resultat einer internationalen Tagung dar, die in der Stiftsbibliothek von St. Gallen durchgeführt wurde (26.–29. August 2015). Im Mittelpunkt dieser Tagung stand der Mönch Tuotilo (850–913), der in spätkarolingischer Zeit im Kloster St. Gallen lebte und dort als herausragender Goldschmied, Maler, Bildschnitzer, Dichter und Komponist gewirkt haben soll. Materielle Werke aus der Hand dieses vielfach begabten Künstlers haben sich allerdings kaum erhalten bzw. lassen sich nur schwer nachweisen.
In der Stiftsbibliothek von St. Gallen wird jedoch eine liturgische Handschrift verwahrt (das sog. »Evangelium longum«, Cod. Sang. 53), dessen Einband aus Gold, Edelsteinen und Elfenbeinreliefs aus der Hand des Tuotilo stammen soll. Dies wird bereits in einer Klosterchronik des 11. Jahrhunderts behauptet (»Casus Sancti Galli«), die weiterhin von der starken Körperkraft und zarten Empfindsamkeit des Tuotilo zu berichten weiß, drastische Anekdoten aus dem Leben des Mönchs kolportiert und zugleich die »einzigartige und unverkennbare Tongestaltung« (singularis et agnoscibilis melodie) des Komponisten rühmt. Wer war nun dieser Tuotilo? War dieser Mönch so etwas wie ein Universalgenie avant la lettre? Oder sollte man, im Gegenteil, den rühmenden Berichten der späteren Klosterchronik keinerlei Glauben schenken? Hat es diese überragende Künstlerpersönlichkeit vielleicht in Wirklichkeit gar nicht gegeben?
Der Untertitel des vorliegenden Bandes »Archäologie eines frühmittelalterlichen Künstlers« macht bereits klar, dass hier derartigen Pauschalurteilen eine Absage erteilt wird. Dem steht die Überzeugung gegenüber, dass man sich einer frühen Künstlerpersönlichkeit, wie sie es Tuotilo gewesen sein soll, nur über eine Quellenkritik nähern kann, die die erhaltenen Spuren und Fragmente mit methodischer Sorgfalt prüft und mit der gebotenen Vorsicht in Beziehung setzt. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass sich herausragende Persönlichkeiten des frühen Mittelalters keinesfalls gegen das klösterliche Kollektiv behaupten mussten. Im Gegenteil: In seiner Einleitung macht David Ganz deutlich, dass das Klostermilieu von St. Gallen maßgeblichen Anteil an dem Ruhm des Tuotilo hatte. Die textgebunde Erinnerung an eine derartige Persönlichkeit war eben nur in einer hochkultivierten Schriftkultur möglich.
Es ist die Stärke dieses Bandes, dass er der Versuchung widersteht, den »echten« Tuotilo ausfindig zu machen, und stattdessen das Ziel verfolgt, mit archäologischer Akribie die historischen Schichten der Überlieferung freizulegen. So ist es nur konsequent, dass das »Nachleben« des Tuotilo in literarischen und künstlerischen Zeugnissen der Neuzeit gleich am Anfang dieses Bandes verhandelt wird (Ernst Tremp, Franziska Schnoor, Karl Schmuki), danach die sozialen Lebensbedingungen im Kloster von St. Gallen (Rupert Schaab, Wojtek Jezierski) und die »Anfänge musikalischer Schöpfung« erörtert werden (Andreas Haug, Susan Rankin) und erst zuletzt die materiellen Zeugnisse aus Goldschmiedekunst, Elfenbeinschnitzerei und Buchmalerei in den Fokus der Untersuchung rücken (Joseph Ackley, Stefan Trinks, Fabrizio Crivello, Ittai Weinryb).
Aus kunsthistorischer Perspektive mag man bedauern, dass sich nur zwei Aufsätze mit den Elfenbeinschnitzereien des »Evangelium longum« befassen. Dabei stehen diese technisch qualitätsvollen, ikonografisch ungewöhnlichen und konzeptuell anspruchsvollen Tafeln, wie Stefan Trinks in seinem Beitrag betont, in der Zeit um 900 durchaus einzigartig da. Wer hier mehr erfahren will, sei auf die feine Analyse von David Ganz in der Publikation »Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter« 1 verwiesen.
Im Ganzen leistet der Sammelband einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Tuotilo-Forschung im engeren Sinne, sondern zu der grundsätzlichen Frage, wie eine methodisch versierte Mediävistik eine frühmittelalterliche Persönlichkeit in den Blick nehmen kann, ohne die verschiedenen Überlieferungsstränge in ihrem historischen Eigenwert außer Acht zu lassen. Zudem macht der Band deutlich, dass dies nur gelingen kann, wenn verschiedene Disziplinen (Kunstgeschichte, Geschichte, Philologie, Buchwissenschaft, Musikwissenschaft u. a.) ins gemeinsame Gespräch kommen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Tobias Frese, Rezension von/compte rendu de: David Ganz, Cornel Dora (Hg.), Tuotilo. Archäologie eines frühmittelalterlichen Künstlers, Basel (Schwabe Verlag) 2017, 370 S., 12 farb. Bildtafeln, 78 farb. Abb. (Monasterium Sancti Galli, 8), ISBN 978-3-906819-19-8, EUR 98,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51782