Befriedigend seien die Kenntnisse zur belgischen Geschichte im deutschsprachigen Raum noch immer nicht, stellen die Herausgeberin und die Herausgeber in ihrer Einleitung zu »›Belgium is a beautiful city‹?« fest (S. 12) und legen damit den roten Faden der folgenden Aufsätze aus. Denn in dem Band mit dem Untertitel »Resultate und Perspektiven der Historischen Belgienforschung« sind 18 relativ kurze Beiträge gebündelt, die die Bandbreite der Forschung präsentieren sollen. Sie sind hervorgegangen aus einem Workshop, der 2016 vom Arbeitskreis Historische Belgienforschung und vom ebenfalls 2016 gegründeten Belgienzentrum der Universität Paderborn organisiert wurde.

Die institutionalisierte historische Belgienforschung ist ein junges Feld, in dem hierarchie-, disziplinen- und länderübergreifend Forschungsperspektiven zusammenkommen, die sowohl den Staat Belgien als auch die in ihm liegenden und an ihn grenzenden Regionen in den Mittelpunkt stellen, denn belgische Geschichte könne nicht »nur ›für sich‹« betrachtet werden, sondern habe vergleichende oder transnationale Aspekte zu berücksichtigen (S. 129). Damit ist die Erwartung geweckt, einen Band in der Hand zu halten, der sich nicht nur an Belgien-Fachleute richtet, sondern der den Weg in die allgemeine Geschichtswissenschaft sucht. Das Unterfangen ist schon durch die thematische Schwerpunktsetzung gelungen, wenngleich auch einige wenige Einschränkungen zu vermerken sind.

Die Themen der Beiträge sind chronologisch geordnet und zeigen auf, woran die historische Belgienforschung nicht nur im deutschsprachigen Raum aktuell verstärkt arbeitet. In der Frühen Neuzeit bilden die mit der Glaubensspaltung verbundenen territorialen Bündnisse (Ramon Voges) bis hin zum Achtzigjährigen Krieg (Christian Mühling) die frühen Bedingungen für die spätere belgische Staatsbildung und stehen deshalb weiterhin im Forschungsinteresse. Hierzu zählt auch die Einordnung der Verfassungsdiskussion des späten 19. Jahrhunderts (Christina Reimann).

Einen deutlich größeren Schwerpunkt ergeben die Arbeiten zum Ersten Weltkrieg, während dessen das Deutsche Reich Belgien überfiel, besetzte und ausbeutete. Sebastian Bischoff vertieft die Propagandaanalyse zur deutschen Abwehrstrategie nach der Besetzung Belgiens, und Jens Thiele diskutiert das ambivalente Verhalten deutscher Gewerkschafter angesichts der Zwangsdeportationen aus Belgien. Es folgt ein Überblick zur belgischen Weltkriegsforschung (Geneviève Warland), unter anderem mit Hinweisen zu den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in Flandern und in der Wallonie.

Der Beitrag mit Details zur zweimaligen Zerstörung und Rekonstruktion der Löwener Universitätsbibliothek durch deutsche Truppen (Winfried Dolderer) korrespondiert mit Christian Herrnbecks Text über sein Fotokunstprojekt, mit dem er die langfristig wirkenden Markierungen von Krieg und vierjähriger Besatzungszeit im zivilen Leben Belgiens zu visualisieren versucht. Um dem relationalen belgischen Erfahrungszusammenhängen näher zu kommen, legt Sophie De Schaepdrijver in ihrem Beitrag verschiedene Zeitschichten frei, die im Kriegsjahr 1916 eine veränderte Wahrnehmung der Kriegs- und Besatzungssituation in der Zivilbevölkerung bedingten. Instruktiv geht De Schaepdrijver vom Fall der im April 1916 wegen Hochverrats zum Tode verurteilten Gabrielle Petit aus, der paradigmatisch aufzeige, wie die deutsche Besatzung zu diesem Zeitpunkt versuchte, sowohl ordnungspolitisch gefestigt als auch drastischer aufzutreten. Mit dem »Ludendorff turn« (S. 69) wurden Maßnahmen zur Zwangsarbeit von Belgiern im Deutschen Reich forciert, gleichzeitig verschlechterte sich die Nahrungsmittelversorgung dramatisch und auch das belgische Bildungsbürgertum sah sich zunehmend durch die Besatzung drangsaliert. Ein abnehmendes Engagement des belgischen Widerstands gegen die Okkupation stand nicht im Widerspruch zu diesen Entwicklungen, sondern war Folge einer unter Belgierinnen und Belgiern bis 1916 dominierenden und nun schwindenden Wahrnehmung und Erwartung, auf eine bald bevorstehende Befreiung Belgiens hinwirken zu können.

Die Beiträge zur Zwischenkriegszeit und zum Zweiten Weltkrieg beschäftigen sich mit der Legitimitätsfunktion des belgischen Königshauses während der politischen Krise der 1930er Jahre (Johannes Florian Kontny), mit der keineswegs eindeutigen Einordnung der Flamen als »germanisch« durch den Nationalsozialismus (Ine Van Iinthout), mit der Rolle von Österreicherinnen in der belgischen Résistance (Andrea Hurton) und mit der Frage, wie die deutsche Strafjustiz in Berlin mit »Kriminalitätsfällen« umging, die von belgischen Zwangsarbeitern begangen worden waren (Julia Albert, Herbert Reinke). Die besonderen deutsch-belgischen Beziehungen zeigen sich unter anderem eindrücklich an den umgekehrten Rollen des Militärs nach 1945, denn nun unterstützten belgische Truppen die britische Besatzungsmacht und aus grenznahen Lebenssituationen ergaben sich zahlreiche Gelegenheiten zum Schmuggel, der erst mit zunehmendem Souveränitätsgewinn der Bundesrepublik effektiv unterbunden wurde (Juliano de Assis Mendonça).

Ab den 1960er Jahren verschärfte sich der innerbelgische föderale Konflikt zu einem emotional aufgeladenen Sprachenkonflikt, der 1968 zur Teilung der Universität Löwen (Leuven) in jeweils französisch und flämisch sprechende Funktionseinheiten führte (Klaas de Boer). Sowenig dieser Konflikt beendet ist, so sehr ist die innerbelgische Situation auch von der Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und ihren Folgen, sowie mit postkolonialen Strukturen geprägt. Daniel Tödt umreißt den »belgischen Entwicklungskolonialismus« nach 1945 und dessen widersprüchlichen Bildungsanspruch in den Beziehungen zur Demokratischen Republik Kongo.

Julien Bobineau problematisiert in diesem Kontext die sehr resistente museale Praxis des kolonialen Blicks, die erst Anfang der 2010er Jahre mit der Schließung und Neukonzeption des Musée royale de l’Afrique centrale (MRAC) auch von politischer Seite auf den Prüfstand gestellt wurde. Abgeschlossen wird der Band von Sabine Schmitz, die literarische Texte belgischer Muslime vorstellt und sie – auch vor dem Hintergrund jüngster Ereignisse – auf ihre Erzählstrategien zwischen Dringlichkeit und Notwendigkeit befragt.

Zweifellos informieren die Beiträge inhaltlich sehr breit und sie reichen von Projektvorstellungen, Überblicken bis hin zu analytischen Tiefenbohrungen. Erschwert wird die Rezeption, da viele Beiträge sowohl explizite Thesen als auch eine breitere theoretisch-heuristische Einordnung vermissen lassen. Das Manko hätte unter Umständen aufgefangen werden können, wenn die Herausgeberin und die Herausgeber in ihrer Einleitung die Forschungsdiskussion, in der sich die einzelnen Themen einordnen lassen, problemorientierter ausgeführt hätten.

So ist der Band eine wichtige Grundlage für die deutschsprachige Belgienforschung, deren Anschlüsse untereinander und an weitere transnationale Forschungskonzepte in Zukunft noch weiter ausgebaut werden sollten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Claudia Kemper, Rezension von/compte rendu de: Sebastian Bischoff, Christoph Jahr, Tatjana Mrowka, Jens Thiel (Hg.), »Belgium is a beautiful city«? Resultate und Perspektiven der Historischen Belgienforschung, Münster, New York (Waxmann Verlag) 2018, 246 S., zahlr. Abb. (Historische Belgienforschung, 5), ISBN 978-3-8309-3777-7, EUR 39,90., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51840