Der vorliegende Sammelband geht auf eine international und interdisziplinär angelegte Tagung zurück, die 2013 an der Université catholique de l’Ouest (UCO) in Angers stattfand. Folgt man den einleitenden Worten der Herausgeberin Gwénola Sebaux, so zielt der Band – mit besonderem Augenmerk auf dem deutschen Kontext – darauf ab, politische und gesellschaftliche Perspektiven menschlicher Migrationsprozesse in verschiedenen kulturell-historischen Zusammenhängen in Europa umfassend zu untersuchen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der Zeitgeschichte und der neueren Geschichte. Die 17 Aufsätze sind entlang von fünf thematischen Achsen organisiert und sollen nach Migrationsregimen (1), postkolonialen Pfaden (2), realer und gefühlter Zwangsmigration (3), transnationalen Dimensionen (4) sowie aktuellen Identitätsdebatten (5) fragen.
Der erste Themenabschnitt »Régimes migratoires, histoire nationale et transnationale de l’immigration« (1) wird vom Doyen der deutschen Migrationsforschung Jochen Oltmer eröffnet, der sehr verständlich die Entwicklung europäischer Migrationsregime – ein maßgeblich von ihm geprägtes Konzept – am Beispiel der europagerichteten Zuwanderung von Gastarbeitern nach dem Zweiten Weltkrieg schildert und sie in drei Phasen gliedert: 1. Entstehung von Migrationsregimen Ende der 1940er Jahre, 2. Verfestigung der Migrationsregime Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre, 3. das Ende der Anwerbung von Gastarbeitern. Jannis Panagiotidis knüpft eng an diesen Aufsatz an und argumentiert überzeugend im Hinblick auf Zusammenhänge von ethnischer Identität als zentralem Verknüpfungspunkt und Strukturierungsrahmen von Migrationsprozessen und -regimen, während er diese gekonnt am Beispiel der Wanderungen im Kontext des Kalten Kriegs plausibilisiert. Der Text von Dirk Rupnow fällt etwas aus dem Rahmen, da er keine Migrationsregime behandelt, sondern ein Problem der Erinnerungspolitik. In erster Linie kritisiert er den Umgang Österreichs mit seiner Migrationsvergangenheit und plädiert für die Errichtung eines Archivs der Migration, um einen Paradigmenwechsel hin zu einer Akzeptanz und Bewusstwerdung der Migration als festen Bestandteil der österreichischen Geschichte zu erreichen.
Der Block „Trajectoires (post)coloniales en Europe sud-orientale“ (2) ist inhaltlich stimmig. Er beginnt mit einem eher deskriptiven Aufsatz von Vasile Docea über die deutschen Einwanderer in Rumänien im 19. Jahrhundert. Neben der Beantwortung der impliziten Fragestellung nach den Gründen für die Feindschaft gegenüber fremden Kolonialisierungs(-versuchen) erleichtert der Autor durch einen umfangreichen historischen Abriss gleichzeitig den Zugang zu den Folgebeiträgen. So erläutert Anton Sterbling auf anschauliche Art das Konzept der kollektiven Identität aus soziologischer Perspektive und fragt am Beispiel der Banater Schwaben nach den zum Teil ambivalenten Auswirkungen von Remigration etwa auf das Zugehörigkeitsempfinden. Anhand desselben Fallbeispiels veranschaulicht Gwénola Sebaux anregend verschiedene Komponenten einer (transnationalen) Identitätsbildung. Einen sozialgeographischen Blickwinkel auf die interkulturelle Verteilung und Dynamik von Sprachen in Timișoara (Temeswar) bietet abschließend Emmanuel Bioteau in Zusammenarbeit mit Vincent Veschambre. Dieser Beitrag setzt durch eine überaus anspruchsvolle Argumentation sehr viel (Vor-)Wissen voraus und ist daher nicht immer ohne weiteres verständlich. Zudem vermisst die Rezensentin eine ausführliche Konkretisierung der thematisierten Minderheiten sowie eine weitreichendere Definition des Interkulturalitätsbegriffs.
Alice Volkwein eröffnet den Abschnitt „Migrations forcées, réelles ou symboliques“ (3) mit einem ausgesprochen gelungenen und gut strukturierten Aufsatz, in dem sie theoretisch fundiert Aspekte von Gedächtnis und Identität bei Geflüchteten sowie Vertriebenen auf individueller, nationaler und schließlich europäischer Ebene untersucht. Passend dazu folgt ein überzeugender Beitrag von Christine de Gemeaux über Zwangsmigration in Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg, der den damit zusammenhängenden Fragen nach Identität bzw. Identifikation sowie nach den teilweise bis in die Gegenwart reichenden Auswirkungen für Deutschland und Europa nachgeht. Catherine Repussard diskutiert die kolonialähnliche Sonderstellung des Elsass als Reichsland auf bisweilen etwas umständliche Weise und schildert anhand dieses Beispiels das Phänomen der symbolischen Migration. Die im Aufsatztitel angekündigte Thematisierung von Identität greift die Autorin dabei leider zu wenig auf.
„Les migrations, un enjeu transnational?“ (4) wird von Patrick Farges eingeleitet, der aufschlussreich die Differenzen von „Jekkischkeit“ und „yidishkayt“ herausarbeitet und die Relevanz eines transnationalen Zugangs bei Fragen jüdischer Migration begründet. Im Anschluss referiert Dorothea Bohnekamp recht knapp über die Gemeinschaft der deutschen Juden in Frankreich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, den Umgang Frankreichs mit zurückgekehrten Deportierten und die damit zusammenhängenden Herausforderungen. Abschließend verlässt Samuel Delépine den jüdisch-deutschen Kontext und übt neben der Definition und Problematisierung der „Roma-Frage“ auf europäischer Ebene überzeugend Kritik am Umgang mit dieser Minderheitengruppe, während er differenziert die Positionen Frankreichs herausstellt. Durch seine Orientierung am eher zeitgenössischen Migrationsgeschehen bietet der Beitrag eine gelungene Überleitung zum letzten Themenblock „Enjeux migratoires et identitaires dans l’Allemagne contemporaine“ (5).
Brigitte Lestrade schildert verständlich die Konsequenzen der „aktuellen“ Migrationsbewegung aus süd- und osteuropäischen Ländern nach Deutschland, deren Gründe sie in der 2007/08 ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise ausmacht. Dabei reflektiert sie auch deutsche Ansichten und politische Entwicklungen, die aus ebendieser Migrationsbewegung resultierten. Hier ist vor dem Hintergrund der seit 2015 ankommenden Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten der Aktualitätsanspruch des Beitrags zu hinterfragen – zumindest aber sollten sich Leserinnen und Leser bewusst darüber sein, dass die Ergebnisse dem Stand von 2013 entsprechen. Gilles Leroux dekonstruiert gekonnt anhand von Heiratspraktiken die durchaus verbreitete Idee eines türkischen Kommunitarismus in Deutschland. Danach präsentiert Cédric Duchêne-Lacroix mitunter etwas langatmig eine Studie zu Identitätsentwicklungen von in Berlin lebenden Franzosen und Aspekten ihrer sozialen Einbindung. Der Band schließt mit einer Fallstudie von Anne Salles zur innerdeutschen Migration ab, in der sie Familienkonstrukte und Differenzen zwischen den alten und neuen Bundesländern betrachtet und auf ein Fallbeispiel bezieht. Dieses verkörpert die Aspekte von Sozialisation, Adaption und Selektion sicher gut, zeigt jedoch lediglich eine einzige Migrationserfahrung innerhalb Deutschlands auf, was der Leserin aus empirischer Sicht etwas „dünn“ erscheint. Hier wäre eine Öffnung des Aufsatzes hin zu repräsentativeren Ergebnissen oder aber abschließend ein resümierender Beitrag für den Sammelband gewinnbringender gewesen.
Der Sammelband bietet eine breite Palette an vielschichtigen Perspektiven und Beiträgen rund um das Thema Migration im Europa der vergangenen zwei Jahrhunderte und wird so dem Anspruch der Herausgeberin in jedem Falle gerecht. Die Themenblöcke sind im Großen stimmig organisiert, sodass die Aufsätze gut zur Geltung kommen. Zu erwähnen ist auf formaler Ebene die uneinheitliche Umsetzung von Literaturverzeichnis und Fußnoten, die zudem vereinzelt Tippfehler aufweisen, was dem Band jedoch keinen allzu großen Abbruch tut. Insgesamt ist das Werk durchaus für jeden zu empfehlen, der sich mit Fragen der Identitätsbildung im (transnationalen) Kontext und Migrationsprozessen der deutschen und europäischen Geschichte beschäftigt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Victoria Alexandra Hadzik, Rezension von/compte rendu de: Gwénola Sebaux (dir.), Identités, migrations et mobilités transnationales. Europe (XIXe–XXIe siècle). Étude de cas: Allemagne, Autriche, Roumanie, France, Israël, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2017, 232 p. (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-1636-5, EUR 20,00. , in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51844