Reisen in autoritäre und totalitäre Staaten im Europa der Zwischenkriegszeit, das war im April 2017 Thema eines interdisziplinären Kolloquiums mit internationaler Beteiligung, koorganisiert von den Universitäten Paris-Sorbonne und Savoie-Mont-Blanc. Nun liegt der Tagungsband vor, in dem die Beiträge der zehn Historikerinnen und Historiker aus unterschiedlichen Disziplinen (Italianistik, Hispanistik, Germanistik, Wirtschaftswissenschaften) sowie eine aufschlussreiche Einleitung (Christophe Poupault, Frédéric Sallée) und die zukunftsweisenden Schlussgedanken (Olivier Dard, Emmanuel Mattiato) der Herausgeber publiziert sind.

Was diese Artikel verbindet, ist das Reisen in Länder mit neuen politischen Systemen. Wird man aber allein schon durch einen Aufenthalt, durch das persönliche Erleben einer anderen Kultur zum privilegierten Zeugen des Lebens in diesen neuen Regimen, wie von den Herausgebern angenommen?

Wie in Einleitung und Schluss gut dokumentiert, hat sich das Thema Reisen seit Längerem zu einem dynamischen Forschungsfeld entwickelt – zunächst für die Literaturwissenschaft, die vornehmlich Beobachtungen und Erlebnisse von Intellektuellen, Diplomaten oder Politikern ausgewertet hat, und nun auch für Historikerinnen und Historiker. Zu den Reisenden gehören nun auch französische Jurastudenten oder Doktoranden, die zur Vorbereitung ihrer Dissertationen Forschungen in Italien oder Deutschland unternahmen. Allerdings sind Dissertationen nun gerade keine Quellen, um etwas über die Reisen selbst zu erfahren, wie auch der Verfasser des entsprechenden Aufsatzes einräumt.

Der italienische Ingenieur Gaetano Ciocca, ein Verfechter des faschistischen Korporatismus, hatte den Auftrag, eine Fabrik in Moskau zu bauen. Sein zweijähriger Aufenthalt in der Sowjetunion ermöglichte es ihm, die beiden Systeme zu vergleichen. Der als Philosoph bekannte Italiener Ugo Spirito, der aber auch Politiker und Wirtschaftswissenschaftler war und in dieser Eigenschaft Benito Mussolini beriet, reiste ins Dritte Reich, um den nationalsozialistischen Korporatismus vor Ort zu studieren.

Eine Gruppe französischer Architekten hielt sich zur Vorbereitung einer Sondernummer von »L’Architecture d’aujourd’hui« in Italien auf. Der Sozialist Albert Thomas war in seiner Eigenschaft als Leiter der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbunds (ILO) mehrmals in Italien und in der Sowjetunion, worüber umfangreiches Quellenmaterial in Form von Tagebüchern, Presseartikeln und Vorträgen vorliegt. Stipendiaten der Rockefeller-Stiftung, zu denen auch der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Dobbert gehörte, wurde ein ganzjähriger Forschungsaufenthalt in Italien finanziert. In den einschlägigen Biografien und Handbüchern ist sein Name allerdings nicht mehr zu finden. Wie den Archiven zu entnehmen ist, bezahlte er seine wissenschaftliche Neugierde mit dem Leben. Er hatte begonnen, die Widersprüche zwischen den italienischen Gesetzestexten und der Realität zu hinterfragen.

Der Beitrag über Jugoslawien während des diktatorischen Regimes König Alexanders I. nimmt eine Sonderstellung in diesem Tagungsband ein, angefangen damit, dass diese Reisedestination im Vergleich zur Sowjetunion, Italien und Deutschland wesentlich weniger erforscht ist. Die analysierten Quellen stammen von Manès Sperber, einem Österreicher, François Fejtö, einem Ungarn und von Rebecca West, einer Engländerin, die im Übrigen die einzige weibliche Reisende in diesem Tagungsband ist. Ihre Beobachtungen hat sie in »Agneau noir et faucon gris. Un voyage à travers la Yougoslavie« (»Schwarzes Lamm und grauer Falke. Eine Reise durch Jugoslawien«, französische Erstausgabe 1941) vorgelegt. Auch François Fejtö hat ein Reisetagebuch geschrieben, »Voyage sentimental« (»Reise nach Gestern«, ungarische Erstausgabe 1935). Hingegen hat Manès Sperber seine diversen Jugoslawienaufenthalte in Romanform verarbeitet und unter dem Titel »Et le buisson devint cendre« (»Der verbrannte Dornbusch«, deutsche Erstausgabe 1949) publiziert. Nicht nur durch das bereiste Land, sondern auch durch die Herkunft der Reisenden aus Österreich, Ungarn und England sowie die Textsorten bietet dieser Beitrag einen komplementären Zugang zum Thema.

Die fünfte und letzte touristische Destination ist ein Beispiel dafür, dass Tourismus und Krieg durchaus vereinbar sind. Während des Spanischen Bürgerkriegs waren Reisende aus aller Welt eingeladen, sich im Land selbst ein Bild zu machen, jedoch unter Kontrolle der jeweiligen Kriegsparteien. Die ausländischen Gruppen wurden je nach politischem Lager von den Republikanern oder den Nationalisten empfangen und von politisch zuverlässigen Dolmetschern oder auch Fremdenführern begleitet. Ziel war es, die Bewegungen der Gäste zu kanalisieren und zu überwachen.

Der Band bietet also eine beeindruckende Vielfalt von Themen, was die sozioprofessionellen Gruppen, die nationale Herkunft, die politische Orientierung der Reisenden und nicht zuletzt auch die besuchten Länder betrifft. Hingegen wird die Reise als biografisches Erlebnis, wenn überhaupt, nur sehr beiläufig erwähnt. Dies mag ein Grund dafür sein, dass es an konkreten Hinweisen fehlt, wie oder ob ein Kontakt mit der Bevölkerung, gar mit Gegnern des Regimes, überhaupt möglich war. Nicht jeder konnte sich in der Landessprache verständlich machen, viele waren daher auf die Hilfe eines Dolmetschers angewiesen. Gerade jene spielen in autoritären und totalitären Regimen aber eine zentrale Rolle, hatten sie doch den Auftrag, die fremden Gäste zu überwachen, auszuspionieren und den staatlichen Stellen zu berichten. Dies wurde jüngst beispielhaft für Lion Feuchtwangers Moskaureise von 1937 bestätigt1.

Uns liegt also ein anregender Tagungsband vor, mit konkreten Anstößen für künftige Forschungsvorhaben. Die Herausgeber betonen, dass das Thema Reisen bei Weitem nicht erschöpfend behandelt sei, vor allem was die Zeit nach 1945 betrifft, und somit noch ausreichend Stoff für diverse Forschungsprojekte biete.

1 Vgl. Anne Hartmann: »Ich kam, ich sah, ich werde schreiben.« Lion Feuchtwanger in Moskau 1937 – eine Dokumentation, Göttingen 2017.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ute Lemke, Rezension von/compte rendu de: Olivier Dard, Emmanuel Mattiato, Christophe Poupault, Frédéric Sallée (dir.), Voyager dans les États autoritaires et totalitaires de l’Europe de l’entre-deux-guerres: confrontations aux régimes, perceptions des idéologies et comparaisons, Chambéry (Éditions de l’université de Savoie) 2017, 296 p., 8 ill. (Sociétés, Religions, Politiques, 41), ISBN 978-2-919732-77-7, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51848