André François-Poncet, der in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland als französischer Hoher Kommissar eine herausragende Funktion inne gehabt hat, hatte in den Jahren 1931 bis 1938 bereits als Botschafter in Berlin gewirkt, wobei er eine in der historischen Forschung nicht ganz unumstrittene, zwischen Kooperation und Konfrontation schwankende Rolle spielte. In dieser Zeit berichteten er und seine Mitarbeiter in Berlin und die französischen Konsuln im Reich sehr ausführlich über die Vorgänge in Deutschland nach Paris.

Aus der Masse dieser Berichterstattung hat der Holocaust-Forscher Jean-Marc Dreyfus eine Auswahl getroffen und 2016 unter dem Titel »Les Rapports de Berlin« kommentiert herausgegeben1. Bei der hier anzuzeigenden Publikation handelt es sich um die deutsche Ausgabe dieser Edition. Warum aus der ursprünglichen, neutralen Bezeichnung »rapports«, also »Berichte«, nunmehr »Geheime Depeschen« geworden sind, wird der deutschen Leserschaft allerdings nicht mitgeteilt. Es steht zu vermuten, dass es sich um eine verkaufsfördernde Strategie handelt.

Obwohl bei Editionen diplomatischer Akten mittlerweile die strikt chronologische Anordnung Standard ist, hat Dreyfus die 84 ausgewählten Dokumente sachthematisch in sieben Kapiteln angeordnet. Sie beginnen mit »Deutschland am Vorabend von Hitlers Machtergreifung« und führen über »Die Errichtung der Diktatur«, »Wirtschaftsfragen«, »Die nationalsozialistische Ideologie«, »Propaganda und öffentliche Meinung«, »Die Olympischen Spiele in Berlin« bis zu »Antisemitismus und Judenverfolgung«, wobei das Hauptgewicht mit 28 Dokumenten bei letzterem Thema liegt. Leider erfährt man nicht, ob diese Gewichtung derjenigen des Gesamtkorpus der Berichterstattung entspricht oder auf die Interessenlage des Herausgebers zurückgeht. Die Finanzierung der NSDAP oder ihre Beziehungen zur Schwerindustrie werden nicht thematisiert und Berichte über das Verhältnis des Regimes zur Reichswehr beziehungsweise zur Wehrmacht oder zu den Kirchen verstecken sich in den oben genannten Kapiteln.

Die Dokumente werden zum Teil nur auszugsweise oder teilweise resümierend wiedergegeben, wobei die Editionstechnik insgesamt etwas eigenwillig anmutet. Besonders die Gestaltung der Dokumentenüberschriften ist recht uneinheitlich. Meist wird neben dem Datum das behandelte Thema genannt, bisweilen der Verfasser, gelegentlich auch die Art des Schriftstücks und der Weg seiner Übermittlung (»Unverschlüsseltes Telegramm, per Luftpost«, S. 171), einmal auch der Empfänger. Eine logische Systematik ist dabei nicht zu erkennen.

Dem Dokumententeil sind Vorwort und Einleitung vorangestellt, die neben einer kurzen Charakterisierung François-Poncets einen Überblick über die Quellenlage und die Editionsrichtlinien bieten, der leider zu knapp ausfällt und nicht immer sehr klar ist. Letzteres mag an der Übersetzung liegen, die zu viele sprachliche und fachterminologische Unsicherheiten aufweist. So müsste es auf S. 23 und S. 29, Anm. 9 zweifellos »Aktenbestände« und nicht »Archive« heißen und auf S. 93, Anm. 25, wäre der »ministre plénipotentiaire« als außerordentlicher und bevollmächtigter »Gesandter« und nicht als »Botschafter« wiederzugeben; desgleichen sind »Botschaftsberater« und »Geschäftsführer«, die auf S. 232 bzw. 235 auftauchen, keine im Deutschen gebräuchlichen Bezeichnungen diplomatischer Funktionen.

Ein Problem ergibt sich daraus, dass François-Poncet spezifische deutsche Termini in seinen Berichten mit französischen wiedergibt, die dann in der vorliegenden Ausgabe ins Deutsche rückübersetzt worden sind, was zu einer gewissen Verunklarung beiträgt – etwa wenn das Berliner Auswärtige Amt als »Zentralverwaltung« bezeichnet wird. Die deutsche Fassung lässt zudem nur selten etwas von der vom Herausgeber erwähnten »literarischen Qualität« (S. 17) und dem »einzigartigen und emphatischen« Schreibstil François-Poncets (S. 20) erahnen.

Wirkliches Gewicht erhält die Berichterstattung eines Botschafters nur in dem Maße, wie sie von den Entscheidungsträgern in der Zentrale zur Kenntnis genommen wird und deren Entscheidungen beeinflusst. Hierüber kann der Herausgeber leider nur sehr vage Aussagen machen (S. 46), auch gibt er keinerlei Hinweise auf eventuelle Bearbeitungsvermerke auf den abgedruckten Dokumenten oder ob in Erlassen und Weisungen des Quai d’Orsay in irgendeiner Weise auf sie Bezug genommen worden ist. François-Poncet selbst hat freilich später gemeint, man habe seine Berichte in Paris gar nicht gelesen (S 16), was deren Relevanz natürlich deutlich mindern würde.

Aus heutiger Sicht ist die Berliner Berichterstattung selbstverständlich von ungleicher Qualität, Korrektheit und Scharfsichtigkeit. Zu den besseren Berichten zählt etwa derjenige des Geschäftsträgers Pierre Arnal über das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (S. 93 ff.) oder das Urteil über die deutschen Diplomaten, von denen es im April 1933 heißt, sie würden kaum »viel Charakter zeigen. Die meisten von ihnen legen es nur darauf an, sich den heutigen Machthabern anzubiedern, indem sie sich gegenseitig an Chauvinismus überbieten« (S. 103 f.).

Wenn es allerdings zur selben Zeit heißt, bei der Errichtung der Diktatur werde es weder Helden noch Märtyrer geben: »Deutschland wird sich selbst ohne jede Klage, ohne jeden Vorwurf eilfertig in die Knechtschaft begeben. Die deutsche Demokratie hat nichts zu wahren vermocht, nicht einmal ihr Gesicht« (S 93), so wäre an dieser Stelle ein Hinweis des Herausgebers auf die Reichstagsrede Otto Wels’ anlässlich der Einbringung des Ermächtigungsgesetzes angebracht gewesen, ähnlich wie er unter anderem die Ausführungen zur Rolle der Homosexualität in der NS-Ideologie korrigiert hat (S. 136, Anm. 8). Die den Dokumenten in den Fußnoten beigefügten Erläuterungen zu Personen und einzelnen Sachverhalten (etliche stammen auch von der Übersetzerin) sind recht unsystematisch, nicht immer ganz präzise und teilweise auch fehlerhaft: Papen war Botschafter in Ankara und nicht in Istanbul (S. 77, Anm. 5); Bülow wurde 1930 Staatssekretär, nicht 1920 (S. 101, Anm. 42); Richard Meyer war 1933 tatsächlich, wie es im abgedruckten Dokument heißt, Leiter der Abteilung IV im Auswärtigen Amt (Osteuropa, Skandinavien, Ostasien) und nicht, wie in der Anmerkung fälschlich korrigiert, nur für den Nahen Osten zuständig (S. 101 f.).

Das Ganze wird ergänzt durch einige Fotografien und ein Literaturverzeichnis; unverständlicherweise aber fehlt ein Namensregister.

Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine weitere Quellenedition zu Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, die bereits vorliegende ergänzt. Die abgedruckten Dokumente können für ein breiteres, besonders französisches Publikum, das zur Originalausgabe greifen kann und sich speziell dafür interessiert, wie die französischen Vertreter über das NS-Regime berichteten, recht interessant sein. Für wissenschaftliche Zwecke dürfte der Wert hingegen begrenzt bleiben – da müsste man schon zur Gesamtheit der Originaldokumente greifen. Aufs Ganze gesehen erschließt sich daher dem Rezensenten Sinn und Nutzen der Publikation, so wie sie hier geboten wird, nur mit Mühe.

1 Jean-Marc Dreyfus (Hg.), Les rapports de Berlin. André François-Poncet et le national-socialisme, Paris 2016.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Grupp, Rezension von/compte rendu de: André François-Poncet, Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus. Ausgewählt und kommentiert von Jean-Marc Dreyfus. Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2018, 255 S., 10 s/w Abb., ISBN 978-3-534-26966-2, EUR 39,95., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51853