In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Europäischen Union gehören die Geschichte der europäischen Integration, der Institutionen, der Nationalstaaten und Kulturen zu den notwendigen Grundlagen eines umfassenden Verständnisses heutiger Formen, aktueller wie vergangener Prozesse sowie vollzogener und nicht-vollzogener Entwicklungsschritte. Nicht nur die Geschichtswissenschaften, auch die Sozialwissenschaften in einem weiter gefassten Verständnis nutzen das Wissen um historische Gegebenheiten und Entwicklungen für ihre Analysen.

Dabei galt es lange Zeit, eine Geschichte der großen Schritte, der herausragenden internationalen Ereignisse und Entwürfe zu schreiben (S. 11). Der nun vorliegende erste Band der Reihe »Europäische Geschichte in Quellen und Essays« greift hingegen den Trend zu einer vielfältigeren Geschichtsschreibung auf, in dem neue Themen gesetzt, neue Perspektiven eingenommen und vom Großen zu einer Betrachtung der Details übergegangen wird. Mit dieser Ertrag bringenden Perspektiverweiterung stellt sich aber auch unmittelbar die Frage der Auswahl der betrachteten Quellen.

Der Band ist in drei zeitliche Abschnitte unterteilt, die chronologisch aufeinander aufbauen, sich in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung jedoch stark voneinander abgrenzen:

Die fünf behandelten Ausgangspunkte zur europäischen Einigung (S. 16) des ersten Teils verdeutlichen, dass »Europa« früh aus verschiedenen Richtungen gedacht wurde, deren Einflüsse auf die EU-28 nur allzu deutlich hervortreten. Dem ordnungspolitischen Gedanken eines Europa im internationalen System widmet sich ein Essay (S. 27), wohingegen sich andere den nationalsozialistischen Europabildern und -visionen des Agrareuropa im Lebensraum-Konzept (S. 46) und den entsprechenden völkisch-rassistischen Neuordnungsvisionen (S. 38) zuwenden. In Zukunft wird zu diskutieren sein, ob und in welchem Maße einige Konzepte später unter anderen Vorzeichen aufgegriffen wurden.

Alternative Europa-Konzepte und bedeutende Ereignisse werden am Beispiel der Atlantic Charta (S. 53), der Rede Winston Churchills vom 19. September 1948 (S. 59) und eines Leitartikels von Léon Blum (S. 67) in den Fokus genommen. Im Widerspruch zu der angekündigten Beschränkung auf »deutschsprachige Autoren« (S. 15) fällt das englischsprachige Essay Volker Berghahns aus der Reihe. Behandelt das Essay nicht die einzige nicht-deutschsprachige oder übersetzte Quelle, so ist nach den Gründen für diese Ausnahme oder eher gegen die Hinzunahme weiterer nicht-deutscher Essays zu fragen. Die von den Herausgebern beabsichtigte Diversität und Vielfalt der Zugänge wäre ohne diese sprachliche Selbstbeschränkung noch deutlicher hervorgetreten.

Ein zweiter Block (1950–1969) befasst sich unter anderem mit drei Schlüsselereignissen der europäischen Integrationsgeschichte: der Rede Robert Schumans (S 85), der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA 1960 im Vergleich zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1957 (S. 147) und des Gipfels von Den Haag 1969 (S. 163), der nicht zuletzt Ziele der Integrationspolitik für die nächsten Jahrzehnte vorgab.

Der abschließende Block (1970–1989) greift sowohl die Stagnation der europäischen Integration im Scheitern des Werner-Plans (S. 245), die Erneuerung des Erweiterungsprozesses beispielhaft mit dem positiven Votums Spaniens (S. 215) als auch Reformbemühungen und -debatten mit der Diskussion zum Genscher-Colombo-Plan (S. 177) und der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) auf (S. 231).

Gerade die Abschnitte zwei und drei widmen sich neben bedeutsamen, integrationsgeschichtlichen Ereignissen und Momenten zentralen Themenfeldern, die jenen Schwenk von einer Geschichte großer Ereignisse zu einer Geschichte der Details und alltäglichen Besonderheiten erlauben (S. 11). Neben Regierungsdokumenten, Abschlusserklärungen, Reden und Verträgen werden auch Artikel, Medienberichte und Lexikoneinträge analysiert.

Für die Rezensenten fallen aus politikwissenschaftlicher Perspektive ungewöhnliche Beiträge auf, die wiederkehrende Themen anhand unterschiedlicher Quellen und historischer Zusammenhänge betrachten. Für sich genommen stellen Beiträge zu Ausgrabungen (Osman Hamdi Beys Bericht über Sidon im Libanon, S. 189) oder französische Fernsehnachrichten (Katrin Jordan, S. 197) ungewöhnliche Ansätze dar, die jedoch in ihrer Zusammenstellung historische Interdependenzen wie auch Bruchstellen einiger Entwicklungslinien aufzeigen. Während ein Essay anhand von Statistiken über die Lebensniveaus in den EG-Staaten nationale Klischees erörtert (S. 119), werden diese Motive ebenso bei der Analyse des »Europäers« in lexikografischen Beiträgen aufgegriffen (S. 151). Diese Texte zeigen das Fortwirken längst widerlegter »biohistorischer Narrative« (S. 155) in der Identitätsbildung der Europäer und Europäerinnen bis in das aktuelle Jahrtausend. Gerade die Krisenthematik, ein in der europäischen Integrationsforschung oft wiederkehrendes Motiv, findet Eingang in unterschiedliche Essays (S. 18, 135, 143, 163, 177, 197, 245), sodass sich die Problemlösungsinstinkte der europäischen und nationalen Akteure und Akteurinnen – die so oft zu einer vertieften Integration geführt haben – offen zeigen.

Der Sinn der anfänglich – gerade für Nichthistoriker und Nichthistorikerinnen – kontraintuitiv wirkenden Anordnung, der Quelle das jeweilige Essay voranzustellen, offenbart sich schnell, wenn durch Einordnung und Quellenanalyse Inhalte, Bedeutung und Kontext der Dokumente zugänglich werden. Dies führt gerade fachfremde Lesende an die Bedeutung historischer Analysen und den Beitrag der Quelleninterpretation heran.

Die Herausgeber legen mit dem ersten Band ihrer Reihe keine neue umfassende Geschichte der europäischen Integration vor, können und wollen die bestehenden Standardwerke nicht ersetzen. Die Leistung dieses Werks besteht vielmehr darin, den Fokus bereits informierter Leserinnen und Leser von jener großen Geschichte auf die detaillierten Zusammenhänge und neuen Themen zu lenken, an welchen es den bestehenden Arbeiten noch häufig mangelt. So verbinden die unterschiedlichen Essays in ihrer Vielfalt der Themen und der Unterschiedlichkeit der untersuchten Quellen bereits vorhandenes und vorausgesetztes Wissen um die Geschichte europäischer Integration mit ihren bisher wenig betrachteten Facetten. Mit der erkenntnisreichen Quellendiversität und dem Anspruch, neben traditionell untersuchten auch weniger bekannte Dokumente in den Blick zu nehmen, verbindet sich eine notwendige Auswahl der Themen. Da viele Essays aus dem »Themenportal Europäische Geschichte« stammen1, wäre eine detailliertere Erläuterung der Auswahl angemessen. Darüber hinaus scheint es den Rezensenten sinnvoll, Verweise auf themenverwandte Arbeiten des Themenportals zu geben, um zur weiteren Lektüre anzuregen.

Ist für die Einordnung der Quellen sowie ein umfassendes Verständnis der Analysen ein Mindestmaß an Vorwissen über die erwähnten großen Zusammenhänge nötig, so stellt der erste Band der Serie »Europäische Geschichte in Quellen« für Studierende eine wertvolle Ergänzung zur notwendig verkürzten Lehrbuchgeschichte europäischer Integration dar, und für Dozierende eine umfassende Sammlung von Ansatzpunkten zur Lehre des Themenreichtums europäischer Geschichte. Zudem ist es, gerade auf Grund der Vielfalt der Themen, als Lesebuch für ein europainteressiertes und vorgebildetes Publikum zu empfehlen, das bestehende und oft rezitierte europäische Narrative reflektieren und hinterfragen will, und nach neuen Impulsen für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der europäischen Integration sucht.

1 Themenportal Europäische Geschichte, hg. von Rüdiger Hohls, Berlin 2005–2018.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Darius Ribbe/ Wolfgang Wessels, Rezension von/compte rendu de: Rüdiger Hohls, Hartmut Kaelble (Hg.), Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2016, 264 S., 2 s/w Abb. (Europäische Geschichte in Quellen und Essays, 1), ISBN 978-3-515-11303-8, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51867