Geschichte als Gegenwartsliteratur? Bei einem solchen Titel ist Widerspruch durch die Geschichtswissenschaft vorprogrammiert. Sofort denken die Fachhistorikerin und der Fachhistoriker an Hayden White und dessen Arbeiten zur Literarizität der Geschichtswissenschaft. Auch wenn Whites Grundthesen heute jedem Geschichtsstudierenden bekannt sind, blieben die Auswirkungen auf das alltägliche Schreiben der Historikerinnen und Historiker gering. Denn, so wird argumentiert, für die gegenwärtige Geschichtsschreibung könnten die Ergebnisse Whites, die aus der Untersuchung der historiografischen Produktion des 19. Jahrhunderts resultierten, keine Gültigkeit beanspruchen. Dementsprechend wird die Verschriftlichung von Forschungsergebnissen kaum in den universitären Curricula und Fachdebatten thematisiert. Historikerinnen und Historiker müssten sich zwar der Sprache bedienen, die Objektivität der Geschichtswissenschaft, so die gängige Meinung, bliebe davon aber unberührt.

Genau an dieser Stelle nimmt Ivan Jablonka, Historiker an der Universität Paris 13 und für seine Werke (»Histoire des grands-parents que je n’ai pas eus. Une enquête« 2012, »Laëtitia« 2016) auf der Grenze von Geschichtsschreibung und Literatur mehrfach preisgekrönt, die Debatte über den Zusammenhang von Geschichte und Literatur wieder auf. Er unternimmt den gekonnten Versuch, die Diskussion über die Literarizität der Geisteswissenschaften (im Sinne von durch Sprache vermittelten Untersuchungsergebnissen) nicht nur neu zu beleben, sondern wesentlich zu erweitern und zu differenzieren. Auf über 300 Seiten legt der Autor dar, warum es sich lohnt, sowohl über das Forschen (im Sinne von Methoden zum Umgang mit Quellen), als auch über das Gewinnen von historischer Erkenntnis und das Schreiben des Historikers intensiv nachzudenken – übrigens drei ineinander verwobene Prozesse.

Jablonka stellt in seinem Buch zwei Grundfragen: Wie kann eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft, oder allgemeiner der Geistes- und Sozialwissenschaften, durch das Schreiben erreicht werden? Und: Kann man eine Literatur des Realen definieren (S. 9)? Um darauf Antworten zu finden, legt Jablonka im ersten Teil das Auseinandertreten von Geschichtswissenschaft und Literatur dar (S. 21–117). Anschließend analysiert er die Art und Weise, wie Historikerinnen und Historiker die Vergangenheit befragen (S.  119–215), und beschäftigt sich im dritten Teil mit dem Verhältnis von Geschichtsschreibung bzw. Geistes- und Sozialwissenschaften und Literatur (S.  219–319).

Geschichtsschreibung wird dabei weniger durch den Gegenstandsbereich als vielmehr durch die Art und Weise charakterisiert, wie die Untersuchungsergebnisse dargestellt werden. Es gelte etwas zu zeigen, eine Argumentation für oder gegen eine bestimmte Sichtweise der (vergangenen) Welt zu entwickeln. Das ist als Ansatz altbekannt. Neu ist aber die Antwort, die Jablonka gibt. Dafür stellt er nicht nur die Definition der Geschichtswissenschaft auf den Prüfstand, sondern auch den Begriff Literatur. Er kann klar herausarbeiten, dass in den historiografischen Debatten immer noch in den Begriffswelten und Gegensätzen des 19. Jahrhunderts argumentiert wird. Wahrheit und Fiktion würden in den Debatten immer noch diametral gegenüber gestellt, ein Text werde entweder der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet.

Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg aber, so die These, stellten Literatur und historische Realität keinen unüberbrückbaren Gegensatz mehr dar, wie beispielsweise die Bücher von Georges Perec, Primo Levi oder Annie Ernaux es belegen. Stattdessen werde die historische Realität selbst Gegenstand des Romans und somit die klare Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion aufgelöst. Wenn die Geschichtswissenschaft außerhalb der Fachdebatten präsent bleiben wolle, so müsse sie sich an einer solchen Konzeption von Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts abarbeiten.

Im Laufe der Ausführungen Jablonkas werden viele feinsinnige Unterscheidungen eingeführt – beispielsweise die Unterscheidung zwischen »le réel« (im Sinne von historischen Fakten) und »le vrai« (im Sinne von historischer Erkenntnis). Eine Überwachungskamera im Schlafzimmer Ludwigs XIV. würde, so sein Beispiel, nicht unbedingt zu einem historischen Mehrwert führen, da es zum Verstehen von Geschichte nicht nur Fakten (»le réel«) brauche, sondern immer auch ein intellektuelles Verfahren, das diese Fakten in Zusammenhänge setze und somit Geschichte erst verständlich mache (S. 121–131). Nur dadurch kann Geschichte überhaupt etwas erklären und entsprechend ist die Narration, die es zur Vermittlung von Forschungsergebnissen bedarf, nicht als Schwäche, sondern als Stärke der Geschichtswissenschaft anzusehen (S. 139).

Für die deutschsprachige Leserschaft besonders interessant sind die Passagen zur Frage, wie engagiert eine Historikerin oder ein Historiker sich in den öffentlichen Debatten zu verhalten hat. Zu wessen Anwalt schwingt sie/er sich auf? Frankreich ist hier – wie Jablonka zeigt – einen ganz unterschiedlichen Weg im Vergleich zu Deutschland gegangen. Während sich die französische Geschichtswissenschaft ausgehend von der Dreyfus-Affäre immer für die »Schwachen« in der Geschichte engagierte und häufig emanzipatorischen Charakter hatte, blieb die deutsche Geschichtswissenschaft doch im weitesten Sinne bildungsbürgerlich in ihren Thematiken.

In Jablonkas Untersuchung ist die Problemstellung der Historikerin oder des Historikers der Schlüssel zum Verständnis ihres Tuns und zum Wesen der Geschichtsschreibung. Nur wenn es eine Fragestellung gibt, werden Dokumente zur Quelle oder Personen zu Zeitzeugen (S. 165). Eine Methodendebatte, die sich auf den Umgang mit den Quellen (äußere und innere Quellenkritik, Vergleich von unterschiedlichen Perspektiven auf das gleiche Ereignis etc.) beschränkt, beleuchte nur einen Teil des Prozesses historischer Erkenntnis. Jenseits der Rekonstruktion von historischen Fakten aus den Quellen bedarf es in einer postpositivistischen Geschichtswissenschaft noch vieler anderer intellektueller Operationen, die es zu analysieren gilt – einschließlich des Schreibens als Vorgang der Wissensgenese. Geschichtsschreibung findet keine historischen Wahrheiten (»verité«), sondern sagt etwas Wahres (»vrai«) aus, in dem eine durch Belege gestützte Argumentation entwickelt wird (S. 183).

Eine wichtige Rolle kommt in Jablonkas Erklärung den »Fiktionen der Methode« zu. Darunter versteht er beispielsweise die Art und Weise, wie die Forschenden ihre Quellenkorpora zusammenstellen (was wird berücksichtigt? was nicht?), wie sie mit Theorien zur Erklärung von historischen Sachverhalten oder historischen Wandel arbeiten, oder wie sie sich im hermeneutischen Verstehensprozess den geschichtlichen Abläufen und ihren Akteuren annähern (S. 197). Jablonka unterscheidet hier wiederum vier Figuren: die »Entfremdung« (estrangement), die »Erklärungen aus Wahrscheinlichkeit heraus«, die »Konzeptualisierung« (bspw. durch die Schaffung von bedeutungsaufgeladenen Epochen wie die Renaissance oder geografischen Konzepten wie die »Bloodlands«) und den »Prozess der Narrativierung der Untersuchungsergebnisse« (S. 197–215).

Diese tragfähigen Unterscheidungen könnten die theoretischen Debatten entschieden bereichern, bedürfen aber zum Teil noch einer eingehenden Untersuchung durch die Geschichtswissenschaft. Jablonka greift für seine Ausführungen nicht nur auf die Klassiker der französischen Geschichtstheorie zurück, sondern bereichert die Diskussion durch viele Anleihen aus dem Bereich der Chicago School. Deutsche Literatur zum Thema wird hingegen kaum berücksichtigt.

Im dritten Teil widmet sich Jablonka dann dem Verhältnis von Text und Methode. Er propagiert eine Annährung zwischen der neuen »Literatur des Realen« und der Geschichtsschreibung. Von der formalen Gliederung bis hin zum Fußnotensystem werden Praktiken des akademischen Schreibens erörtert und kritisiert – ob seine Vorschläge alle so umsetzbar sind, sei hier dahin gestellt. Bedenkenswert ist aber folgende zentrale Überlegung: Der heute praktizierte wissenschaftliche Stil, der weder die Person des Forschenden noch seine jeweiligen Entscheidungen, die zu den Forschungsergebnissen geführt haben, thematisiert, sei der Wissenschaftlichkeit der historischen Texte abträglich. Statt Geschichte als Resultat darzustellen, solle man sie als Prozess der Erkenntnis des jeweiligen Forschenden darstellen und somit intelligibel machen. Denn: Der Historiker und Historikerinnen können sich – so Jablonka im Anschluss an Charles Péguy – nicht über die Geschichte erheben, genauso wenig wie ein Arzt, trotz seines Berufes, vor Krankheit und Tod gefeit sei (S. 300).

Der Fachwissenschaft würde eine intensive Auseinandersetzung mit den Thesen Jablonkas gut tun, denn während der Titel des Buchs sofort Widerspruch evoziert, so provoziert der Inhalt des Buches vor allem viele neue Gedanken. Die Lektüre sei deswegen nicht nur Theorieinteressierten empfohlen, sondern allen Historikerinnen und Historikern, denen es so geht wie Akira Kurosawa: »Je ne sais pas ce qu’est le cinéma, c’est pour cela que je continue à faire des films« (S. 305).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Niels F. May, Rezension von/compte rendu de: Ivan Jablonka, L’histoire est une littérature contemporaine. Manifeste pour les sciences sociales, Paris (Éditions du Seuil) 2017, VIII–333 p. (La Librairie du XXIe siècle), ISBN 978-2-02-113719-4, EUR 21,50. , in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51868