Welches Zielpublikum hat ein Buch, das bei Napoleons erster Erwähnung in einer Fußnote seine Person mit »Napoleon Bonaparte (1769–1821), französischer General, Diktator und Kaiser« erläutern zu müssen glaubt (S. 15, Fn. 4), aber in einer anderen Fußnote unübersetzte Zitate in türkischer Sprache liefert (S. 182, Fn. 618)? Der Autor ist Amateurhistoriker und ein wahrer aficionado der osmanischen Geschichte. Das erklärt und entschuldigt diese sowie manche anderen Schwächen. Dessen ungeachtet ist das Buch ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zur Geschichte des Osmanischen Reiches im sogenannten »langen« 19. Jahrhundert.

Das 260 Seiten starke Werk von Rasim Marz stellt tatsächlich den ersten Anlauf zu einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Biografie von Mehmed Emin Âli Pascha (1815–1871) dar. Âli Pascha, oft zusammen mit seinem Freund Mehmed Fuad Pascha (1814–1869) und seinem früheren Gönner Reşid Pascha (1800–1858) als einer der Architekten der Tanzimat – der modernisierenden Reformen des osmanischen Staates – bezeichnet, war zweifellos einer der bedeutendsten Staatsmänner des Osmanischen Reiches des 19. Jahrhunderts.

Das Paradox, dass das Osmanische Reich zugleich einen Teil Europas und eine von Europa getrennte eigene Welt darstellte, spiegelt sich bis heute in der Historiografie wieder. Die osmanische Geschichte ist ein Randgebiet der europäischen Geschichtswissenschaft geblieben.

Zwar reklamiert die Türkei das Osmanische als Teil ihrer Nationalgeschichte. Aber die verschiedenen Spielarten des Nationalismus haben der wissenschaftlichen historiografischen Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich in der Türkei nicht durchweg gut getan. Zudem sind große weiße Flecken der historiografischen Kartierung geblieben, die erst in den letzten Jahren einer systematischen Aufarbeitung unterzogen zu werden begannen.

Nicht nur die vergleichsweise zögerliche wissenschaftliche Aufarbeitung, auch die Natur der zur Verfügung stehenden historischen Quellen hat dazu beigetragen, dass sich auch die führenden osmanischen Repräsentanten der Politik im 19. Jahrhundert im Vergleich zu den bekannten europäischen Pendants in der Literatur eher als flat characters präsentieren.

Diese Hintergründe muss man sich klarmachen, um die Stärken und die Schwächen dieses Versuchs von Rasim Marz nicht zu verkennen und zu verstehen, warum das Buch nicht mehr als ein Ansatz zu einer klassischen Biografie sein kann und trotzdem einen beachtenswerten Beitrag zur biographischen und osmanistischen Forschung darstellt.

Ein Blick auf die Quellenlage zur Person Âli Paschas mag das verdeutlichen. So erwähnt der Autor etwa die Tatsache, dass Âli Paschas Nachlass zum größten Teil beim Brand seines Hauses 1868 verloren ging (Fn. 628) oder die umstrittene Frage der Authentizität seines angeblichen Testaments (Fn 661). Osmanische Selbstzeugnisse, auch persönliche Briefe, stehen aus der Epoche Âlis und aus seinem Umfeld praktisch nicht zur Verfügung; nur eine Handvoll osmanischer Chronisten (im weiteren Sinne) wie Basiretçi Ali Efendi, Ahmed Cevdet Pascha oder Ali Fuad, Ali Rıza und Mehmed Galip sowie der klassische Biograf İbnülemin Mahmud Kemal İnal stehen für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte Âlis und ihrer Kontexte aus der innerosmanischen Perspektive bereit.

Es ist darum kein Wunder, dass im Narrativ des Autors europäische Quellen eine tragende Rolle spielen. Diese sind allerdings alles Andere als durchgängig bekannt und ausgewertet. Namentlich das unveröffentlichte Manuskript »Sechzehn Jahre in Konstantinopel« des österreichischen Diplomaten Anton Prokesch von Osten, das im österreichischen Haus- Hof- und Staatsarchiv aufbewahrt wird, spielt hierbei eine wichtige Rolle und liefert zahlreiche interessante Einblicke. Europäisches und osmanisches Archivmaterial im engeren Sinne fand dagegen nur vereinzelt Berücksichtigung.

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der internationalen Politik Âlis und hält hier durchweg die Linie ein, das Osmanische Reich und die Politik der Pforte unter Âli und Fuad zu verteidigen.

Vereinzelte Irrtümer haben sich eingeschlichen. So heißt es auf Seite 59, Fußnote 179 mit Verweis auf das Buch »Women and Slavery in the Late Ottoman Empire« (S. 210)1, die Scharia verbiete »den Besitz muslimischer Sklaven«. Abgesehen davon, dass Madeline C. Zilfi dies an der angegebenen Stelle nicht behauptet, ist die Information so auch nicht richtig. Was der Autor im gegebenen Kontext meint, ist, dass die Versklavung freier Muslime und Musliminnen religionsgesetzlich nicht statthaft war – aber eben z. B. im späten Osmanischen Reich häufig praktiziert wurde. Wenig hilfreich ist auch die lapidare Information, die allgemeine Schulpflicht sei 1824 durch Mahmud II. eingeführt worden (Fn. 23).

Insgesamt stellt das Buch zweifellos eine Bereicherung für die osmanistischen Forschung dar und liest sich zudem – von wenigen stilistischen Schwächen abgesehen – sehr angenehm.

1 Madeline C. Zilfi, Women and Slavery in the Late Ottoman Empire. The Design of Difference, Cambridge 2012.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christoph Herzog, Rezension von/compte rendu de: Rasim Marz, Ali Pascha. Europas vergessener Staatsmann, Berlin (Frank + Timme) 2016, 260 S., 18 Abb. (Geschichtswissenschaft, 26), ISBN 978-3-7329-0247-7, EUR 34,80., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51871