Die Geschichte Algeriens ist in der Forschung zumeist eine Geschichte der französischen Kolonialzeit. Literatur zur Eroberung, Konsolidierung und Organisation der französischen Herrschaft sowie zum Algerienkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts ist Legion. Die Perioden davor und danach stehen deutlich weniger im Fokus von Überblickswerken oder werden im Rahmen von Arbeiten zur nordafrikanischen Geschichte abgehandelt. Vor allem Veröffentlichungen zum postkolonialen Algerien sind zudem verhältnismäßig alt. Dies spiegelt sich nicht nur in der Auswahl der einbezogenen Forschungsliteratur wider, sondern auch im Untersuchungszeitraum. Nahezu alle diese Überblickswerke sind in oder (zum Teil weit) vor den 1990er Jahren erschienen und können sich daher gar nicht mit den wechselhaften Ereignissen der vergangenen 30 Jahre beschäftigen oder betrachten die Phase ziemlich isoliert.

Nun hat James McDougall, Historiker an Trinity College in Dublin, eine neue Geschichte Algeriens von 1516 bis heute vorgelegt. Das Neue an diesem Buch sind nicht die von ihm gewählten Zäsuren: Auch McDougall teilt seine Geschichte des Landes in die Phasen der osmanischen Herrschaft, des französischen Kolonialregimes und der Zeit nach der Unabhängigkeit ein. Anders aber als vorhergehende Autoren, beschäftigt er sich vor allem mit den langfristigen politischen Entwicklungen und Brüchen sowie deren Folgen bis ins 21. Jahrhundert. Auch, so erklärt er zu Beginn des Buches, liege sein Fokus weniger auf der Politik »großer Männer« oder auf teleologischen Narrativen wie dem einer »nationalen Erweckung«, sondern vielmehr auf der algerischen Gesellschaft und ihrem Umgang mit der jeweiligen politischen Umwelt.

McDougall geht chronologisch vor. Das erste von sieben Kapiteln ist eine Zusammenfassung der Geschichte des osmanisch regierten Algeriens, während die Kapitel zwei bis fünf die Kolonialzeit thematisieren. Er betont dabei die Kontinuitäten zwischen der osmanischen und französischen Herrschaft. Diese fänden sich vor allem auf der Ebene der lokalen Eliten, die trotz der systematischen Eroberung durch die französische Armee und die rechtliche Unterdrückung im Kolonialismus weiter an der Macht blieben.

Die ersten Rufe nach einer Reform der französischen Herrschaft im frühen 20. Jahrhundert verdankten sich einer neuen Öffentlichkeit und Soziabilität sowie der steigenden Bedeutung von Massenmedien und -politik. Dabei beriefen sich die algerischen Wortführer geschickt auf die französischen Schlagwörter égalité und liberté. In den 1940er Jahren, also bereits zehn Jahre vor Beginn des Algerienkrieges, radikalisierten sich diese Bemühungen und führten, so argumentiert McDougall, letztlich zur militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich ab 1954. McDougall ist entsprechend seiner Schwerpunktsetzung nicht nur am Kriegsverlauf selbst interessiert, sondern vor allem an den gesellschaftlichen und politischen Implikationen, welche dieser mit sich brachte. Dabei legt er dar, dass der Krieg auch nach Erlangung der Unabhängigkeit die algerische Gesellschaft als stets präsenter Fluchtpunkt prägte.

Die abschließenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Verlauf der ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit sowie dem Militärputsch und dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Die zentrale Rolle der Militärführung im neugegründeten Einparteienstaat unter dem Front de libération nationale (FLN) und der fortdauernde Primat der Parteieninteressen lassen McDougall zum Schluss kommen, dass es sich bei der erkämpften Unabhängigkeit um eine »unvollendete Revolution« handelte. Er betont die zentrale Rolle von Korruption sowie demografischer und ökonomischer Probleme beim Aufstieg der Islamistischen Heilsfront (Front islamique du salut, FIS) Ende der 1980er Jahre und wie diese sich zum Gravitationspunkt des Widerstandes gegen den omnipräsenten FLN entwickelte.

Den darauffolgenden Bürgerkrieg in den 1990er Jahren zeichnet McDougall in dessen ganzer Brutalität nach und verdeutlicht, dass er alle Gesellschaftsteile betraf und weit über eine bipolare Auseinandersetzung zwischen Regierung und dem Groupe islamique armé (GIA) hinausging. Der Krieg wurde von der algerischen Regierung zwar gewonnen, eine substantielle Anpassung des politischen Systems als Reaktion auf dieses einschneidende Ereignis wurde jedoch nicht vorgenommen.

McDougall hat ein sehr gut zu lesendes Buch verfasst. Dazu tragen auch die immer wieder eingefügten Ausschnitte aus den Biografien einzelner Akteure bei. Wenngleich die eingehende Beschäftigung mit Akteuren wie dem militärischen Anführer ʿAbd al-Qādir dem Vorsatz entgegenläuft, nicht die Politik »großer Männer« in den Fokus der Untersuchung zu rücken, gelingt es ihm auf diese Weise, vor allem für die Zeit des Unabhängigkeitskrieges und der postkolonialen Periode, die komplexen Auseinandersetzungen und Prozesse der algerischen Geschichte zu veranschaulichen. McDougall nimmt die indigenen Akteure ernst und betrachtet sie nicht nur als immerwährende Opfer der Osmanen und Franzosen. Gleichzeitig vernachlässigt er aber etwas zu sehr einzelne alltagskulturelle Streitpunkte, etwa Rechte und Rolle der Frau.

Wie eingangs angedeutet, ist die Forschung zur algerischen Geschichte zwar mannigfaltig und auch sehr ausdifferenziert, McDougalls Untersuchung setzt sich dennoch davon ab. Zum einen liegt das an seinem doppelten Fokus auf die algerische Gesellschaft und ihre im Wandel begriffene Umwelt. Zum anderen ordnet er auch die aktuelleren Ereignisse wie den Bürgerkrieg in den 1990er Jahren sowie die sich anschließende (und bis heute andauernde) Präsidentschaft Abdelaziz Bouteflikas in eine lange chronologische Perspektive ein. Dazu gehören auch die Proteste des »arabischen Frühlings«, die seiner Ansicht nach in Algerien nicht wirklich zum Tragen kamen, da sie dort einerseits nicht politisch, sondern vor allem sozial bedingt und auf die lokale Ebene begrenzt gewesen seien. Andererseits habe die Regierung beim Ausbruch der Proteste sofort Zugeständnisse gemacht. Eine geschlossene Widerstandsbewegung gegen das Regime habe so nicht entstehen können.

McDougall bezieht auch immer wieder globale Entwicklungen in seine Betrachtung mit ein. Wohldosiert ergänzt er Erklärungsmodelle, die vor allem Prozesse im algerisch-französischen Rahmen in den Blick nehmen, um eine weiter ausgreifende Perspektive. Dies ist nicht nur der Fall, wenn er über die algerischen Erwartungen, die sich 1918 im Zuge des Ersten Weltkrieges an den US-Präsidenten Woodrow Wilson richteten, schreibt, sondern etwa auch, wenn er die Teilnahme der algerischen Nationalisten als Beobachter der Bandung-Konferenz 1955 als »symbol for revolutionary struggles across the Arab world and Africa, and for anti-imperialist movements throughout the emerging Third World« einordnet (S. 206).

Die Arbeit basiert auf einer umfangreichen Quellenkenntnis und bezieht auch Zeitzeugeninterviews in die Argumentation ein. Ergänzt werden diese durch eine breite Auswahl an aktueller Forschungsliteratur. McDougall schließt mit seinem Buch eine Lücke, von deren Existenz man etwas überrascht sein mag. Anders als für die ebenfalls aus der französischen Suprematie hervorgegangenen Maghrebstaaten Tunesien und Marokko, existierte bisher keine Überblicksmonographie zur algerischen Geschichte, die über eine Betrachtung der Kolonialzeit hinausging und diese mit einer Analyse der vorhergehenden osmanischen Herrschaft und der nachfolgenden Phase der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart verknüpfte. Eine solche Studie liegt nun vor.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Alexandre Bischofberger, Rezension von/compte rendu de: James McDougall, A History of Algeria, Cambridge (Cambridge University Press) 2017, XVIII–432 p., 3 maps, 32 b/w ill., ISBN 978-0-521-61730-7, GBP 59,99., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51872