Wolfgang Reinhards vierbändige »Geschichte der europäischen Expansion« (1983–1990) war lange Zeit das einzige wissenschaftliche Werk im deutschsprachigen Raum, das eine fundierte Gesamtschau des europäischen Ausgreifens nach Übersee bot. Für Studierende war es deshalb oft die erste Anlaufstelle, um sich über ein Thema zu informieren und sich einen Überblick über die wichtigste Forschungsliteratur zu verschaffen. Doch die rege Forschungstätigkeit in den letzten zwei Jahrzehnten zum europäischen Kolonialismus im Zuge postkolonialer Kritik und des global turn hatten zur Folge, dass Reinhards Monumentalwerk nicht mehr auf der Höhe der Zeit war.
Grund genug für eine gründliche Überarbeitung, zumal es sich laut Reinhards eigener Aussage um sein wichtigstes Werk handelte. Die rund 1650 Seiten starke Neufassung liegt nun in einem einzigen Band vor und ist durchweg auf dem neuesten Forschungsstand. In Anbetracht der schieren Größe des Forschungsfeldes ist die Syntheseleistung Reinhards deshalb umso beachtlicher, zumal die »Unterwerfung der Welt«, wie das Buch nun heißt, inhaltlich deutlich breiter angelegt ist als die ursprüngliche Version. Auch wenn der Autor im Vergleich zur alten Fassung viel wirtschaftshistorisches Material in Form von Tabellen und Grafiken gestrichen hat, bleibt der starke Fokus auf wirtschaftshistorische Zusammenhänge ein prägendes Merkmal.
Damit setzt sich der Autor nicht zuletzt von vielen aktuellen Gesamtdarstellungen zur europäischen Expansion aus dem angelsächsischen Raum ab, in denen elementare wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge oftmals in ideengeschichtlichen Abhandlungen untergehen. Ohnehin braucht Reinhards Werk den Vergleich mit diesen Konkurrenzprodukten nicht zu scheuen. Zum einen besticht seine Darstellung durch die verständliche Sprache, in welcher komplexe Sachverhalte transportiert werden. Reinhard schreibt pointiert und oft mit einer wohldosierten Prise Humor – da lässt es sich auch über Begriffe wie »Kriegerhorden« (S. 548) hinwegsehen. Zum anderen kommen in Reinhards Darstellung die europäischen Kolonialreiche und die verschiedenen Epochen weitestgehend gleichberechtigt zum Zug. Einzig die Dekolonisierung handelt Reinhard teilweise ziemlich gestrafft ab, weshalb in diesem Teil in manchen Fällen einiges an Hintergrundwissen vonnöten ist.
24 Kapitel, meist in chronologischer Reihenfolge, geordnet nach Weltregionen und Kolonialmächten führen durch rund 600 Jahre Globalgeschichte – von den Anfängen des europäischen Ausgreifens nach Übersee bis hin zu den gegenwärtigen Versuchen westlicher Staaten, am Nord- und Südpol Fuß zu fassen. Dabei arbeitet Reinhard in seiner Darstellung immer wieder strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Imperien heraus. Weder scheut er sich vor gewagten Thesen noch vor dezidierten Stellungnahmen zu aktuellen wie auch älteren Forschungsdiskussionen. Schon allein deshalb lohnt sich die Lektüre des gesamten Bandes für Laien wie auch Fachleute.
Trotz des schieren Umfangs von Reinhards »Unterwerfung der Welt« und der Fülle von darin enthaltenen Informationen lassen sich einige wiederkehrende Themen herausdestillieren. Am Anfang steht die Feststellung, dass die europäische Expansion ein höchst komplexer, zuweilen widersprüchlicher Prozess war und ist. Sämtliche Versuche, Kolonialismus und Imperialismus in allumfassende theoretische Gefäße zu gießen, sind deshalb gescheitert. Die vielleicht einzige Konstante in diesem Prozess war, darauf weist Reinhard wiederholt hin, dass formelle Kolonialherrschaft makroökonomisch fast immer ein Verlustgeschäft war. Hingegen profitierten einige wenige Private massiv von der Ausbeutung indigener Völker und der Ausplünderung von deren Ressourcen.
In der Regel wurden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert – eine Feststellung, die doch stark an die Finanzkrise von 2008 erinnert. Allerdings lassen sich die Profite Einzelner im Rahmen des europäischen Kolonialismus meist kaum historisch fassen, weil sie allzu oft in nur schwer durchschaubaren, transnationalen Handelsnetzwerken versickerten. Die Bewertung der europäischen Expansion ist vielleicht sogar mit noch mehr Fallstricken verbunden. Gut und Böse, von wem und wie auch immer diese definiert sein mögen, lassen sich oft kaum auseinanderhalten. Täter sind häufig Opfer und umgekehrt. Selbst in vermeintlichen Extrembeispielen europäischer Ausbeutung wie dem transatlantischen Sklavenhandel lassen sich Täter und Opfer sowie Gut und Böse oft kaum trennscharf unterscheiden. Geschichte lässt sich eben nicht in Schwarz und Weiß malen, sondern bestenfalls in verschiedenen Grautönen. In diesem Zusammenhang ist auch das für den europäischen Kolonialismus strukturbildende Element indigener Kooperation mit den europäischen Kolonialmächten zu nennen, dem Reinhard große Bedeutung zumisst.
Fast immer gab es indigene Gruppen, die bereit waren mit den Europäern zusammenzuarbeiten und als Mittler zwischen den Kolonialherren und den Massen zu fungieren. Aus europäischer Sicht war dies ein Gebot der Stunde, denn die kolonialen Herrschaftsapparate waren in der Regel schwach – Kolonialherrschaft durfte eben nichts kosten. Diese kooperationswilligen Eliten waren aber weit mehr als bloße Handlanger europäischer Kolonialherren. Oft genug schufen sie sich neue Freiräume oder nutzten ihre Position gar, um die koloniale Herrschaft zu unterwandern. Interkulturelle Kooperation im Rahmen der europäischen Expansion war nicht zuletzt die entscheidende Voraussetzung für wechselseitige Aneignungsprozesse in sprachlicher, kultureller wie auch religiöser Hinsicht. Diese führten immer wieder zu kreativen Neuschaffungen wie etwa den diversen Pidgin-Sprachen oder europäischen Versionen von Yoga und Buddhismus.
In einem lesenswerten wie auch pointierten Schlusswort zieht Reinhard Bilanz. Dabei spart er nicht mit Kritik an Dependenztheoretikern und der postkolonialen Schule. Der neueren Erinnerungsgeschichte wirft er indes vor, eine überholte Nationalgeschichte zu reproduzieren (S. 1314). Reinhard hat sicher recht, wenn er fragt, ob nicht das Vergessen manchmal hilfreicher wäre als das Erinnern, um die Wunden des europäischen Kolonialismus zu heilen (S. 1251).
Im Anhang des Bandes finden Leserinnen und Leser ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das die wichtigsten Publikationen zu allen Kapiteln summarisch auflistet und fast 300 Seiten umfasst. Dessen Nutzung ist aber nicht nur aufgrund des schieren Umfangs nicht ganz leicht, sondern auch, weil einzelne Aussagen im Fließtext nur selten direkt belegt werden. Doch diese Mäkelei vermag die herausragende Leistung Reinhards in keiner Weise zu schmälern. »Die Unterwerfung der Welt« ist ein großer Wurf und gehört in jede Bibliothek.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Flavio Eichmann, Rezension von/compte rendu de: Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, 3. Aufl., München (C. H. Beck) 2016, 1648 S., 122 Abb. (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), ISBN 978-3-406-68718-1, EUR 58,00., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51876