Die beiden Autoren, François Rouquet und Fabrice Virgili, legen eine umfassende Darstellung der politischen Säuberungen (épuration) in Frankreich nach der deutschen Besatzung von 1944 bis in unsere Tage vor. Die beiden Autoren sind ausgewiesene Experten zum Thema.
Ihre Untersuchung, die keine Institutionen-, Parteien- oder Politikgeschichte dieser Zeit sein will, arbeitet heraus, was mit den Menschen, mit »les Françaises, les Français« passiert ist. Die Motive und Handlungsmuster des Einzelnen sollen betrachtet werden. So beschreiben die Autoren die épuration in den Dörfern und Städten als Phänomen der Bevölkerung, aus deren Mitte heraus Mitglieder der Résistance mit ungeheurer Gewalt die der Kollaboration Verdächtigen in Schnellverfahren richten. Mit vielen Beispielen werden die schwerwiegenden Verwerfungen innerhalb der Dorf- und Stadtgemeinschaft und auch der Familien veranschaulicht.
So wird deutlich, dass die 1944 neu entstehende französische Republik auf zwei Ebenen ihren Ausgangspunkt hatte: Erstens im Land selbst, seit 1940 in der mehr oder weniger offen agierenden Résistance in allen Dörfern, Städten und Regionen, und ihrer Konfrontation mit dem Feind, also den Deutschen und den französischen Kollaborateuren; und zweitens in London und anderen Orten des Exils, wo für den zukünftigen Staat Gesetze und Verordnungen geplant und ausgearbeitet wurden. Den Vorgängen in den Kolonien ist ein eigenes Kapitel gewidmet, um zu verdeutlichen, dass dort die Säuberungen früher begonnen hatten, denn dort standen die Menschen und ebenfalls die von Frankreich eingesetzten Politiker vor der Wahl, sich für oder gegen Vichy und damit für oder gegen Nazi-Deutschland zu entscheiden.
Die Zeit zwischen der Landung der Alliierten im Juni 1944 und der Befreiung der Hauptstadt Paris im August 1944 und bis in den Herbst hinein war geprägt von Gewaltexzessen, die mit den Kriegshandlungen nichts zu tun hatten und nach Aussage der Autoren sogar die Alliierten entsetzten. Diese Gewalt ging von »les Françaises, les Français« aus, meist Mitgliedern der Résistance, die alle bestrafen wollten, die sie der Kollaboration verdächtigten. Sie wollten in dieser Phase klar machen, dass sie die letzten Jahre auf der Seite des Rechts gestanden hätten.
In Auflösung war das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Viele Frauen waren gezwungen, wegen der Abwesenheit der Männer für den Lebensunterhalt ihrer Familien allein zu sorgen. Kontakte zu Deutschen machten es möglich, irgendwie über die Runden zu kommen. Die Frauen waren selbstbewusst geworden, sie standen »ihren Mann«. Dieser Rollentausch wurde von den Männern als fundamentales Problem bei der Wiederherstellung des Staates gesehen. Für die Autoren ist daher das Scheren der Haare der Frauen (»la tonte des cheveux«) ein Schlüsselereignis der frühen Phase der épuration. Durch das gewaltsame öffentliche Scheren der Haare der Frauen, die der Kollaboration, meist eines sexuellen Verhältnisses mit einem Deutschen verdächtigt wurden, wurden diese gedemütigt. Durch die Unterwerfung des weiblichen Körpers durch den Mann wurde die Geschlechterordnung wiederhergestellt und legitimiert. So wie sich die Männer durch das Verhalten der Frauen entehrt sahen, so schien auch die französische Nation entehrt worden. Das Scheren der Haare, »la tonte des cheveux«, war also mehr als nur eine Bestrafung – zumal die Betroffenen je nach Vergehen ohnehin zudem ins Gefängnis mussten –, sondern es wurde zum Symbol der Wiederherstellung der ganzen Nation.
Legitimation war auch ein Thema der neuen Republik. Kriegs- und Militärgerichte wurden einberufen, um den Verrat der Kollaborateure an der französischen Nation zu verhandeln. Die ordentlichen Gerichte verringerten nicht die Zahl der Exekutionen, aber sie legalisierten sie. Der sich konstituierende Staat brauchte sie als Legitimation, und de Gaulle und sein Umfeld mussten schnell handeln, bevor es andere taten. Denn, auch das wird in diesem Buch deutlich, es gab viele, die in letzter Minute ihr Mäntelchen wenden wollten, was ebenfalls Gewalt hervorrief.
Breiten Raum nimmt die gerichtliche Aufarbeitung ein. Der letzte Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit fand in der 1990er Jahren statt. Verhandelt wurde gegen Franzosen und Deutsche gleichermaßen. Ein Kapitel ist der Wirtschaft, eines dem Staatsapparat gewidmet. Die spröden Informationen über verhängte Strafen, die Zahl von Verurteilten, Internierten etc. sind aufbereitet in Diagrammen und Karten.
Zum Ende ihres Buches kommen die Autoren zu dem Schluss, dass in Frankreich die politische Säuberung – trotz ihres schlechten Rufes – erfolgte so gut es eben möglich war, vor allem auch im Vergleich zu Nachkriegszeit und Aufarbeitung im übrigen Europa. Viele Französinnen und Franzosen hätten durch ihre Teilhabe an den Ereignissen der épuration, der Gewalt, der Prozesse, den Druck auf die Autoritäten erhöht und verdeutlicht, dass sie eine Säuberung des Staates und des Volkes wollten. Aber nach einer gewissen Zeit habe eben dieses Volk deutlich gemacht, dass es nun genug sei, dass es einen funktionsfähigen Staat und eine blühende Wirtschaft wollte. Dafür nahm es in Kauf, dass die zuvor abgesetzten Verantwortlichen des Vichy-Regimes nach einer umfassenden Amnestie ebendiesen Staat mit aufbauen würden. Zeichen dafür sind das nachlassende Interesse der Öffentlichkeit an der Abrechnung mit Vichy ab dem Ende des Prozesses gegen Marschall Philippe Pétain und die frühe Amnestie im Jahre 1953.
Die Autoren sind sich bewusst, dass sie nicht jeden Aspekt dieses komplexen Themas beleuchten konnten, und wollten dies auch nicht. Daher bietet der 200 Seiten starke Anhang eine Fülle zusätzlicher Informationen. Neben einem Namensregister und zahlreichen Anmerkungen enthält er eine ausführliche Chronologie, die alle im Text genannten Fakten und die besprochene Literatur und Kinofilme aufgreift. Das letzte dort aufgenommene Ereignis datiert von 2017. Die ausführliche Bibliografie verzeichnet einerseits die einschlägige Sekundärliteratur, andererseits »Récits, Biographies, Romans, Témoignages« von Zeitzeugen. Ergänzt wird dies durch eine umfangreiche Filmographie, die alles enthält, was über diese Epoche dokumentarisch oder als Spielhandlung zeitgenössisch oder danach aufgenommen, archiviert, verloren, wiedergefunden und veröffentlicht wurde.
Für einen erschwinglichen Preis ist mit » Les Françaises, les Français et l’Épuration« in der Reihe »Folio Histoire« bei Gallimard ein Werk erschienen, das die Epoche detailreich und anschaulich charakterisiert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Dorothee Gräf, Rezension von/compte rendu de: François Rouquet, Fabrice Virgili, Les Françaises, les Français et l’Épuration. 1940 à nos jours, Paris (Gallimard) 2018, 820 p., 17 ill. (Folio Histoire, 274), ISBN 978-2-07-044522-6, EUR 11,90., in: Francia-Recensio 2018/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51877