Das neuzeitliche Kriegsrecht entstand bekanntermaßen aus unterschiedlichen Ansätzen: im Krieg selbst entwickelten, erforderlichenfalls in sogenannten Kriegsartikeln verschriftlichten Verfahren und Gewohnheiten im Umgang mit eigenen und fremden Kombattanten sowie jeweiligen Nichtkombattanten; auf diesen Gewohnheitsrechten aufbauenden und sie systematisierenden Deklarationen, Konventionen und Abkommen der Kriegsmächte; schließlich juristischen, theologischen und politikwissenschaftlichen Abhandlungen und Argumentationen. Die vorliegende, von Christoph Strohm (Kirchengeschichte, Universität Heidelberg) betreute Dissertation siedelt sich in diesem letztgenannten Feld an. Ihr Anliegen ist es, zu untersuchen, »ob und, falls ja, in welcher Weise der Protestantismus einen spezifischen Beitrag zur Entstehung des frühmodernen Völkerrechts geleistet hat«, exemplifiziert »anhand der Reflexion des Kriegsrechts« (S. 1).
Die gängige Vorstellung, dass zuerst Denker der spanischen Spätscholastik, herausgefordert durch den Ausgriff Spaniens in die Neue Welt, und dann Hugo Grotius im Gefolge des Aufstiegs der Niederlande zur Weltmacht die wissenschaftlich-theoretische Grundlegung des Kriegs- und Völkerrechts bewerkstelligt hätten, soll also durch einen genaueren Blick auf das einschlägige vorgrotianische protestantische Denken hinterfragt werden. Oder anders ausgedrückt, die bisher regelmäßig zugunsten einer übergreifenden humanistisch-säkularen Deutungsperspektive ausgeblendeten oder zurückgestellten konfessionellen (hier: protestantischen) Elemente des Diskurses bzw. dessen protestantisch-theologisch verknüpften Teile sollen ihre angemessene Berücksichtigung finden.
Das hieraus abgeleitete dreigliedrige Untersuchungsprogramm leuchtet ein. In einem ersten Teil werden die Charakteristika und der Stellenwert des Rechtes zum und im Krieg bei den verschiedenen protestantischen Schlüsseldenkern von Luther über Calvin bis zu Johann Gerhard, also auch Repräsentanten des 17. Jahrhunderts, herausgearbeitet. Die zentralen Ergebnisse überraschen zwar nicht unbedingt: große Präsenz und hohe Relevanz der Kriegsfrage und damit des Kriegsrechts angesichts der existenziellen Konfliktträchtigkeit der Glaubensfrage; Verortung des Kriegsrechts bei der weltlichen Obrigkeit mit der Folge einer Aufwertung des Krieges als deren legitimes Instrument; Distanz und meist differenzierte Gegenentwürfe zur traditionellen bellum-justum-Lehre; Ablehnung des täuferischen und sozianischen Pazifismus; unterschiedliche Haltungen zum Söldner- und Bündniswesen.
Aber die Fülle der kriegsrechtlichen Beiträge und die Variationsbreite der oft ausgefeilten Argumentationen protestantischer Juristen, Politologen und sonstiger Gelehrter, die sich an den theologischen Diskurs anlagerten und dessen Prämissen weitgehend übernahmen, detailliert dargelegt im zweiten Teil, beeindrucken doch. Ihr Entstehen wird plausibel vor allem auf die Phase der Zuspitzung der konfessionellen Gegensätze seit um 1600 datiert, während zuvor der Komplex des Widerstandsrechts die protestantischen Gemüter am stärksten bewegte. Freilich scheint den Autor ziemlich zu erstaunen, dass die untersuchten Vertreter nichttheologischer Fächer ihre protestantische Prägung einerseits so deutlich erkennen lassen und andererseits das zeitgenössische politische Zusammenrücken von Luthertum und Calvinismus weitgehend nachvollziehen.
Dazu und zur Deutung dieses Verhaltens gleich als späthumanistisch-irenisch (S. 275–280) besteht m. E. eher weniger Anlass. Natürlich definierten diese Gelehrten die von ihnen in den Blick genommenen Probleme entscheidend auch aus den jeweiligen konkreten Interessenlagen ihrer Konfessionen heraus. Ihr Ziel waren in erster Linie passgenaue Lösungen zugunsten ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft und des gemeinsamen Lagers, keineswegs praxisferne wissenschaftlich-systematische Meisterleistungen, ganz abgesehen von ihrem eigenen Bedürfnis, unbeschädigt an Leib, materieller Position und Reputation durch den Krieg zu kommen. Das unterstreichen auch manche Passagen der gelungenen Rekonstruktion des Beitrags von Christoph Besold, des später zum Katholizismus konvertierten Lutheraners (S. 149–166).
Der dritte Untersuchungsteil stellt prägnant protestantische und römisch-katholische Positionen hinsichtlich dreier zeitgenössisch aktueller Kriegs- und Völkerrechtsfragen zusammen: der Frage interreligiöser und interkonfessioneller Bündnisse, derjenigen des offensiven Religions- und Konfessionskrieges und derjenigen des defensiven Religions- und Konfessionskrieges. Die Befunde überzeugen auch deshalb, weil sie für alle Konfessionen eine erhebliche Bandbreite der Optionen erkennen lassen. Hervorzuheben ist ferner, dass für die gesamte protestantische (vor allem: außertheologische) Kriegsrechtsliteratur eine allmähliche Abschwächung der harten Antichristpolemik gegen die Papstkirche konstatiert werden kann. Maßgebend für den weitgehenden protestantischen Konsens der Ablehnung offensiven Religions- wie Konfessionskrieges war, so der Verfasser, allerdings die patristische, juristische (im Kern: römisch-rechtliche, protonaturrechtliche) und politikwissenschaftliche Argumentation des reformierten Glaubensflüchtlings und Oxforder Juristen Alberico Gentili in dessen »De Jure belli libri tres« von 1598. Auf dieses Werk rekurrierte auch Hugo Grotius »ausgiebig« (S. 190 u. ö.), der ansonsten protestantische Vor- und Zuarbeiten weniger beachtete.
Dem ersten Teil des Schlusssatzes der umsichtig angelegten und auf sorgfältiger Auswertung einer Vielzahl zeitgenössischer, vor allem lateinischer Drucke beruhender Qualifikationsschrift, dass nämlich »auch lutherische und reformierte Gelehrte mit ihrer intellektuellen und konfessionellen Prägung an der Genese und Ausdifferenzierung des frühneuzeitlichen Kriegsrechts mitwirkten«, ist somit zweifellos zuzustimmen. Schwieriger erscheint mir der zweite Teil, nämlich die Feststellung, dass diese Gelehrten dem Kriegsrecht »in spezifischer Weise Gestalt verliehen« hätten (S. 392). Diese »spezifische Weise« erschließt sich dem Leser bzw. der Leserin gerade angesichts der höchst überzeugenden Ausfächerungen der Argumentationen auf allen konfessionellen Seiten nicht unbedingt. Vielmehr überwiegt der Eindruck, dass es zwar unterschiedliche konfessionelle Akzentsetzungen gab, aber sämtliche Problemwahrnehmungen und Argumentationen doch der unerbittlichen, von Staatsräson und »Realpolitik« bestimmter Dynamik der Zeit unterlagen und sich daher je intern und wechselseitig abschliffen. Ein – im vorliegenden Rahmen kaum leistbar gewesener – verstärkter Einbezug der beiden eingangs angesprochenen weiteren Wurzeln des Kriegsrechts hätte diese Einschätzung vermutlich noch weiter unterstrichen, gleichzeitig aber auch die gewählte leitende Fragestellung herausgefordert: statt – etwas apologetisch anmutend – nach bestimmten konfessionellen Elementen hätte umfassend nach den vorgrotianischen Anfängen des Kriegsrechts im 16. und 17. Jahrhundert gefragt werden können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wolfgang E. J. Weber, Rezension von/compte rendu de: Michael Becker, Kriegsrecht im frühneuzeitlichen Protestantismus. Eine Untersuchung zum Beitrag lutherischer und reformierter Theologen, Juristen und anderer Gelehrter zur Kriegsrechtsliteratur im 16. und 17. Jahrhundert, Tübingen (Mohr Siebeck) 2017, XV–455 S. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 103), ISBN 978-3-16-155362-2, EUR 89,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51929