Der am renommierten Centre national de la recherche scientifique arbeitende Historiker Samir Boumediene widmet sich in seiner Studie »La colonisation du savoir. Une histoire des plantes médicinales du ›Nouveau Monde‹ (1492–1750)« der europäischen Expansionsgeschichte der Frühen Neuzeit und den damit einhergehenden Transformationsprozessen des Wissens. Er zeigt auf, dass ohne die europäische Aneignung von Heilpflanzen der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen wäre. Das Ende 2016 erschienene Buch – eine überarbeitete Version seiner Doktorarbeit – erzählt die Geschichte der europäischen Expansion dabei als eine Geschichte der Kolonisation des (Pflanzen-)Wissens. Ganz konkret beschäftigt sich Boumediene mit der Aneignung medizinischer Heilpflanzen wie beispielsweise dem Chinarindenbaum und dem Guajakholz aus Südamerika durch die europäischen Kolonialmächte, insbesondere der spanischen Krone. Boumedienes Fokus liegt auf solchen Entwicklungen, die zwar mit diesem Aneignungsprozess einhergingen, zunächst aber nicht sichtbar waren: So nimmt er zum Beispiel die Transformation von Sprachen, Riten und Gewohnheiten wie auch die alltäglichen Interaktionen genauer in den Blick (S. 20).

Das Buch ist in drei livres untergliedert, die wiederum durch sogenannte Pausen voneinander getrennt sind, in denen Illustrationen die Bedeutung von Arzneimitteln in der Frühen Neuzeit veranschaulichen. Die ersten beiden livres beschäftigen sich mit dem Transfer verschiedener Heilpflanzen nach Europa, beginnend mit der Darstellung der mit Kolumbus einsetzenden europäischen Inbesitznahme des Pflanzenwissens und der Kontrolle über die amerikanischen Heilpflanzen bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im ersten livre stellt Boumediene zunächst die eruptive Bedeutung der Pflanzen für die Medizin und das soziale Gefüge in Europa zwischen 1492 und 1640 dar. Er führt dies an der »Entdeckung« des Guajakholzes aus (S. 62f.).

Daran anschließend untersucht er die Implikationen der neuentdeckten Heilmedizin für die unmittelbaren kolonialen Beziehungen. Hierin sei es nicht mehr vorrangig um die Ausbeutung von Arbeitskraft gegangen. Die Erkenntnis über das vorhandene (Mehr-)Wissen der kolonisierten Bevölkerungen über Arzneimittel habe vielmehr dazu geführt, dass sich die vor Ort befindlichen Akteure neu auf den »Kulturkontakt« einstellen mussten, um Informationen zu erhalten (S. 84). So beschreibt Boumediene, wie im Jahr 1570 die erste wissenschaftliche Expedition im Namen des spanischen Königshauses durch Francisco Hernández stattgefunden habe mit dem Ziel der Inventarisierung der amerikanischen Pharmazie (S. 85). Er zeichnet die enge Verbindung zwischen der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften ab dem 17. Jahrhundert und der Kolonisierung nach. Zu einer radikalen Umkehr habe die »Verwissenschaftlichung« kolonialer Beziehungen indes nicht geführt. Vielmehr sei der Wissenstransfer über Heilpflanzen immer wieder durch die brutale Zerstörung indigener Lebensgemeinschaften unterbrochen worden.

Im zweiten livre widmet sich Boumediene dem kolonialen Geflecht zwischen Europa und Südamerika in den Jahren von 1640 bis 1751. Dabei arbeitet er insbesondere die historische Bedeutung des Chinarindenbaums, dem ›bitteren Gold‹ der indigenen Bevölkerungen, heraus, dessen Wirkstoff Chinin als Mittel gegen Malaria eingesetzt werden konnte. Aufgrund der damit geschaffenen Möglichkeit zur Eindämmung einer der tödlichsten Krankheiten könne die europäische Aneignung des Chinarindenbaums als Wendepunkt in der Medizingeschichte angesehen werden und sei ebenso von grundlegender Bedeutung für die Kolonisationsgeschichte. Erst mit dieser neuen Behandlungsmöglichkeit von Malaria sei eine Kolonisation Asiens und insbesondere Afrikas durch die Europäer möglich geworden (S. 183).

Die europäischen Kolonialmächte hätten zudem seit Beginn des 18. Jahrhunderts immer ausgereiftere Methoden entwickelt, um die natürlichen amerikanischen Ressourcen, insbesondere auch Heilpflanzen, zu entwenden und vor anderen Interessenten zu schützen (S. 255). Natürlich habe auch die Pharmaindustrie von der kolonialen Expansion profitiert, weshalb die Aneignung der Heilpflanzen laut Boumediene als frühe Form der Biopiraterie betrachtet werden könne.

Stellt die Geschichte des Chinarindenbaums somit, wie Boumediene überzeugend belegen kann, einen Fixpunkt kolonialer Beziehungsdynamiken dar, widmet er sich im dritten livre den Pflanzen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht nach Europa gelangten. Denn diese seien dennoch gravierenden Transformationen unterlegen. Die indigene Lebensweise sei durch die spanische Machtausübung oftmals zwischen den divergierenden Interessen von Inquisition und Mission einerseits und Ökonomisierungsbestrebungen andererseits zerrieben worden. Spanien habe zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert mehrfach Untersuchungen eingeleitet, um sich nützlicher Ressourcen zu bemächtigen und die als unzuträglich für die eigenen Machtansprüche erachteten Pflanzen zu verbieten. Gegen diese Eingriffe haben die indigenen Bevölkerungen unterschiedliche Mechanismen entwickelt, beispielsweise die Verwendung pflanzlicher Abtreibungsmittel der nach Amerika verschifften Sklavinnen, die damit die Versklavung ihres Nachwuchses verhinderten (S. 29).

Ungeachtet der beeindruckend internationalen Quellenbasis, auf die sich Boumedienes Studie stützt – etwa Missionarsberichte, medizinische Abhandlungen und Gesetzesentwürfe –, kann eine gewisse Asymmetrie doch nicht gänzlich überwunden werden: Die schriftlichen Überlieferungen stammen fast ausschließlich aus europäischen Federn. Gleichwohl sei dem Autor jedoch zu Gute gehalten, dass er ihren Wert als Zeugnisse europäischer Selbstbilder, und weniger als Dokumente der Überlebens- und Wissensstrategien der indigenen Bevölkerungen, problematisiert (S. 30). Zudem beinhaltet die Studie einige sehr anschauliche, teilweise farbige Bebilderungen und Karten. Bedauernswert ist, dass es keine Gesamtbibliografie gibt und eine schnelle Durchsicht der verwendeten Literatur daher nicht möglich ist. Das knappe Glossar erklärt wiederum einige wichtige Begrifflichkeiten.

Boumediene stellt in seiner Arbeit den langen Weg von der Entdeckung der Pflanzen bis zu ihrer Aneignung als Arzneimittel dar und beschreibt die damit einhergehende Wissensproduktion, die auf mannigfachen Ebenen die mit ihr verbundenen Formen der Machtausübung sowie politische und rituelle Dimensionen berührte und transformierte (S. 8). Das Wissen transferierte dabei nicht einfach von einer Seite auf die andere, sondern veränderte grundsätzlich die Strukturen auf beiden Kontinenten. Die von Boumediene skizzierte politische Geschichte der transformativen Macht von Pflanzen ermöglicht letztlich einen Zugriff auf die gesellschaftshistorischen Entwicklungen der Epoche der Frühen Neuzeit, der dazu beiträgt und hilft, diese nachzuzeichnen und besser fassen zu können (S. 27). Boumediene arbeitet heraus, wozu Kolonisation fähig ist: Sie hat nicht zuletzt die Macht, verschwinden und vergessen zu lassen! Die Pflanzengeschichte Boumedienes kann somit als paradigmatisches Beispiel für die komplexen Wirkungen kolonialer Beziehungen gelesen werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hanna Feesche, Rezension von/compte rendu de: Samir Boumediene, La colonisation du savoir. Une histoire des plantes médicinales du »Nouveau Monde« (1492–1750), Vaulx-en-Velin (Les éditions des mondes à faire) 2016, 480 p., ISBN 978-2955573815, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51931