Viele Veranstaltungen im Reformationsjahr erweckten den Eindruck die Reformation sei abgesehen von dem »Irrweg« der Bauern um Thomas Münzer und einiger anderer »Radikaler« eine einheitliche Bewegung gewesen, die zwar in den verschiedenen Herrschaftsgebieten unterschiedlich schnell voranschritt, im Wesentlichen aber einem ähnlichen Fahrplan mit ähnlichen Akteuren folgte. Die hier besprochene Publikation weitet den Blick, indem sie die Eigentümlichkeit von Trägern, Orten und Milieus der reformatorischen Bewegungen erkennen lässt, die auf unterschiedlichen Frömmigkeitsformen aufbauten und verschiedene Ausgangssituationen, auch auf staatlicher Ebene, für eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft vorfanden.
Die Publikation ist das Ergebnis der Tagung »Reformation(en) vor Ort – Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im Zeitalter der Reformation«, die vom 9. bis 11. Juni 2016 im Archäologischen Landesmuseum Brandenburg in Brandenburg an der Havel stattfand und ein Gemeinschaftsprojekt des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam und der Brandenburgischen Historischen Kommission e. V. war.
Die beträchtlichen Gemeinsamkeiten, aber auch die deutlichen Unterschiede der reformatorischen Umgestaltung in den beiden Kurfürstentümern Sachsen und Brandenburg machen es besonders interessant, beide einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen. Der Vergleich wird dabei selten in den einzelnen Artikeln ausdrücklich vorgenommen. Somit sind die Leserinnen bzw. der Leser, denen etwa ebenso viele Aufsätze mit sächsischen wie mit brandenburgischen Themen geboten werden, hier selbst gefragt.
Nach einem Vorwort und einer Einführung durch die Herausgeber beschäftigen sich 19 Autoren meist sehr quellennah mit den religiösen und kirchlichen Wandlungsprozessen beider Territorien vom späten 15. bis ins 17. Jahrhundert. Die Beiträge sind in sich schlüssig, ergänzen sich gegenseitig und fügen sich zu einem gut konzipierten Sammelband zusammen, der unterschiedliche Aspekte der Reformation »vor Ort«, d. h. in Gemeinden, Städten, Klöstern usw., darlegt.
Da im Folgenden nicht auf alle Aufsätze ausführlich eingegangen werden kann, hat der Rezensent eine Auswahl getroffen, die einige wichtige Gesichtspunkte dieser Herangehensweise zeigen soll.
So weist Uwe Schirmer nach, dass im Herrschaftsbereich der Wettiner, in dem sich die Landstände seit dem Spätmittelalter zu einem elementaren Bestandteil des Herrschaftsgefüges entwickelt hatten, diese auch bei der Verbreitung und Durchsetzung der Reformation eine entscheidende Rolle spielten. Als lokale Herrschaftsträger entschieden sie oft selbständig, ob sie und ihre Untertanen der neuen Lehre folgten. Schirmer legt dar, dass in Kursachsen die sich ausbreitende Bewegung bis ins Frühjahr 1525 von den Landständen getragen wurde, und auch die administrative Durchsetzung, die Kurfürst Johann danach begann, folgte vielfach Anregungen der Stände. Der landständische Einfluss auf die Umgestaltung des Landes erreichte nach Ansicht des Autors seinen Höhepunkt, als die Sequestration der Klöster und anderer geistlicher Güter in den Händen eines landständischen Ausschusses lag.
Noch näher heran an das Wirken vor Ort geht Christoph Volkmar mit seinem Beitrag, der adlige Patronatsherren als Gestalter der Reformation in der Altmark vorstellt. Vielseitig und aus den Quellen belegt sind seine Beobachtungen zum Wandel in den adligen Herrschaften. Unter anderem zeigt er am Beispiel der Familie von der Schulenburg und anderer Familien, wie der Adel im Zuge der Reformation versuchte, eigene Machtinteressen durchzusetzen. Sie beanspruchten die Aufsicht über die Kirchen in ihrem Machtbereich. Aktiv strebte man danach, strukturelle Parallelen zum landesherrlichen Kirchenregiment herzustellen. Indem man sich darauf berief, für das Seelenheil der Untertanen verantwortlich zu sein, wurden Gerichtsherrschaft und Kirchenherrschaft als einheitliches Territorium etabliert.
Wie unterschiedlich reformatorische Veränderungen selbst in einer Stadt verliefen, legt Alexander Sembdner dar, indem er diesen Prozess in der Bischofstadt Naumburg schildert. Vom 14. Jahrhundert an kann man für Naumburg von zwei Städten – Bürgerstadt und Domfreiheit – sprechen. Die kirchlichen Strukturen waren noch differenzierter. Die daraus resultierenden Spannungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren sowie die unterschiedlichen Zeitmaße bei der allmählichen Durchsetzung des neuen Glaubens werden ebenso wie äußere Faktoren, etwa der Einfluss der Wettiner, in all ihrer Komplexität sehr anschaulich dargestellt.
In weiteren Beiträgen werden die unterschiedlichen Wege der reformatorischen Veränderungen im Kloster Dobrilugk (Sascha Bütow), in der Johanniter-Ballei Brandenburg (Christian Gahlbeck), in den Städten der Altmark (Michael Scholz) und an der Universität Frankfurt/Oder (Michael Höhle) gezeigt.
Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Andreas Stegmann, der sich ausführlich mit der brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 befasst. Er analysiert Intention, Entstehungsgeschichte, Aufbau und Bedeutung. Er betont den Einfluss des Kurfürsten, zeigt aber auch deutlich, wer sonst an der Ordnung mitwirkte, die als Gründungsdokument der evangelischen Landeskirche Brandenburgs charakterisiert wird. Nachvollziehbar widerlegt er Ansichten, die Kirchenordnung habe wenig lutherische Elemente.
Allerdings war es ein langwieriger Prozess, bis die Kirchenordnung landesweit vor Ort durchgesetzt werden konnte, wie Christiane Schuchard in ihrer Analyse der Kirchenvisitationen des 16. Jahrhunderts deutlich macht.
Zu den Aufgaben eines Rezensenten gehört es auch, Kritikpunkte zu benennen. Bei einigen Aufsätzen wird die Lesbarkeit des Textes durch zu viele und zu detaillierte Fußnoten beeinträchtigt. Es ist wirklich nicht nötig eher nebensächliche Tatsachen mit einer ausführlichen Erklärung zu versehen. Das lenkt eher vom Wesentlichen ab und mindert das Lesevergnügen.
Die überaus positive Bilanz des Tagungsbandes wird durch diese kritische Bemerkung aber in keiner Weise getrübt.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Aufsätze, die den Quellen immer nahe bleiben, aus unterschiedlichen Blickwinkeln die verschiedenen Akteure und ihre sozialen Netzwerke sowie unterschiedliche Formen geistlicher Auseinandersetzungen der Reformationen vor Ort zeigen. So enthält das Werk anregende Beispiele vergleichender Landes- und religiöser Glaubensgeschichte. Immer wieder wird erkennbar, wie die Reformationen vor Ort gravierende Änderungen bewirkten und zeitgleich mittelalterliche Strukturen bewahrten.
Deutlich wird aber auch, dass der Forschungsbedarf auch nach Ende des Reformationsjahres immer noch groß ist und man sich diesen Themen weiterhin widmen sollte, auch wenn sie nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit stehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jens Kunze, Rezension von/compte rendu de: Enno Bünz, Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann (Hg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert, Berlin (Lukas Verlag) 2017, 455 S., 45 Abb. (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 20), ISBN 978-3-86732-265-2, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51932