Die in vorliegendem Band vereinten 31 Einzelbeiträge verstehen sich als Versuch einer ersten anthropologischen Gesamtdarstellung mit dem Ziel, die Forschung über den französischen Protestantismus in eine »dynamische europäische Forschung zu religiösen Phänomenen« (S. 15) zu integrieren. Die etwas heterogenen Fragestellungen gehen auf protestantische Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrer Identität selbst zurück, wie die Herausgeber in ihrem Schlussvotum (S. 589) unterstreichen. Die einzelnen Studien sind geografisch begrenzt auf das europäische Festland und verteilen sich auf fünf Kapitel: »Materielle Kultur – Raum – Zeit – Sprache – Körperlichkeit«, wobei jeder Teil geschickt mit einem hinführenden Forschungsbericht eingeleitet wird.
Nachfolgend werden einige Beiträge näher vorgestellt, die vor allem stereotype Vorstellungen in der Forschungsgeschichte und anachronistische Mythenbildungen über den französischen Protestantismus korrigieren.
Raymond A. Mentzer behandelt die »Einführung von Abendmahlsmarken und Bankreihen in den reformierten Kirchen Frankreichs im 16. und 17. Jahrhundert« (S. 39–51). Abendmahlsmarken (méreaux) wurden den Gläubigen nach Überprüfung ihrer Kenntnisse in der Glaubenslehre und ihrer korrekten Lebensführung durch den jeweiligen Ältesten ausgehändigt. Sie boten den Künstlern Gelegenheit, Darstellungen von Christus als Hirten oder biblische Verse anzubringen. Diese Marken unterstreichen die fundamentale Bedeutung des Abendmahlssakramentes und sollen die Solidarität der Gemeinde bestärken. Die halbrunde Anordnung der Bankreihen in den Gotteshäusern förderte die Sicht auf den Prediger. Im Gegensatz zu den Abendmahlsmarken führten die Bankreihen abgrenzend zur Sichtbarwerdung der sozialen Unterschiede der Gläubigen.
Philippe Meyzie (S. 105–121) fragt an, ob es in Südfrankreich in der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert eine spezifisch protestantische Esskultur gegeben habe. Das Fehlen direkter Quellen zu dieser Thematik kann einigermaßen ausgeglichen werden über der Auswertung von Predigten, theologischen Traktaten mit normenhaftem Charakter, dann auch Testamenten, Rechnungsbüchern oder gerichtlichen Akten mit Bezug zur Alltagspraxis. An zahlreichen Quellenbeispielen kann der Verfasser nachweisen, dass sich bis zum beginnenden 19. Jahrhundert die Essgewohnheiten der protestantischen Oberschicht kaum von denjenigen der Katholiken unterschieden haben.
Die Beiträge im zweiten Kapitel (S. 123–187) entfalten das Verhältnis von »Öffentlichkeit und privatem Raum« auf vier Ebenen: Land/Territorium/Stadt – religiöses Leben in der Öffentlichkeit – gottesdienstliche Räume – privater Haushalt.
Marie-Hélène Grintchenko (S. 137–148) demonstriert am Beispiel der Hauskapelle von Catherine de Bourbon (1559–1604) den Zusammenhang zwischen privatem Raum und protestantischer Öffentlichkeit mit einem eigenen Konsistorium, in dem die Bediensteten Aufgaben als Älteste und Diakonen übernommen haben. Diese »Hauskirche« garantierte nach der Konversion ihres Bruders (Heinrich IV.) zum Katholizismus die Religionsfreiheit im französischen Königreich. Nach ihrer Verheiratung mit dem katholischen Fürsten Karl III. von Lothringen wurde die religiöse Autonomie der Königsschwester jedoch eingeschränkt, weil der reformierte Gottesdienst außerhalb von Nancy stattfinden musste.
Yves Krumenacker (S. 149–164) geht von der These aus, dass die französischen Protestanten in Mentalität und Lebensweise ihren katholischen Zeitgenossen näher standen als den ausländischen Glaubensbrüdern. Er entfaltet diese Thematik anhand von südfranzösischen Nachlass-Dokumenten und stellt fest, dass die gehobenen protestantischen Schichten keineswegs die Zurschaustellung ihres Reichtums verachteten. Außerdem verbot die reformierte Theologie weder die Herstellung noch den Erwerb von Porträts, sofern sie nicht Kultgegenstände wurden. Die schwarze lange Kleidung im lutherischen Patriziat der deutschen Länder war ein unspezifisches Zeichen für Ehrbarkeit, wie dies auch Romain Thomas in seinem Beitrag (S. 519–529) bestätigt. Krumenackers apodiktisches Urteil: Die vielbeschworene protestantische »Nüchternheit« und Askese gehört in das »Reich der Mythen« (S. 164).
Das dritte Kapitel widmet sich dem Fragenkomplex, ob es eine spezifische protestantische Zeitvorstellung gibt (S. 191–333). Yves Krumenacker (S. 191–204) meint mit Blick auf die Kalenderreform von 1582, dass man zwar nicht von einer protestantischen, wohl aber von einer konfessionalisierten Zeit sprechen könne, die zu einer verspäteten Einführung des gregorianischen Kalenders in den protestantischen Staaten führte.
Joke Spaans (S. 219–242) weist anhand mehrerer Kupferstiche nach, dass die markanten Allegorien der Reformationszeit nicht die reformierte Kirche als Inkarnation der rechten Lehre thematisierten, sondern vielmehr die skandalösen Spaltungen im Christentum. Der auf die geschlossene Bibel gestellte Leuchter könne nur darauf hinweisen, dass die Reformation eben noch nicht vollendet sei.
Im mittelalterlichen Erbe der Kirche galt die Nacht als Zeit natürlicher wie übernatürlicher Gefahr, während bei den Protestanten, zumal in Verfolgungszeiten, die Nacht Zeit der Sicherheit für religiöse Versammlungen darstellte. Diesen Bedeutungswandel im Protestantismus verfolgt Craig Koslofsky (S. 305–316). Ihr biblisches Vorbild erkannten die Protestanten in dem zur Nachtzeit Jesus aufsuchenden Nikodemus (Joh. 3). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden dann die Täufer mit Nikodemus identifiziert. Selbst die Deutung des Wortes »huguenot« wurde mit nächtlichen Gottesdiensten assoziiert. Unabhängig davon bezeichnete Calvin in den Jahren nach 1540 »Nikodemiten« als Protestanten, die ihren Glauben verleugneten.
Sprache und rhetorische Stilmittel sind Gegenstand des vierten Kapitels (S. 337–436): Isabelle Garnier (S. 381–396) sucht nach sprachlichen Kennzeichen reformierter Identität in der französischen Literatur des 16. Jh. Sie konzentriert sich dabei auf drei Aspekte: 1. Vermeidung von Flüchen, 2. die häufige Verwendung göttlicher Namen (Seigneur/Christ/Éternel) und 3. die Verwendung des Adjektivs seul. Éternel ist eine lexikalische Neuerung von Pierre-Robert Olivetan in seiner Bibelübersetzung von 1535. Das Adjektiv seul gehört in den theologischen Kontext der Reflexion über die paulinische Rechtfertigungslehre. Nach Ronsard entspricht die häufige Verwendung von seul einem »semantisch strukturierenden Element« reformierter Redeweise (S. 395).
Nahrung und Essgewohnheiten, Kleiderordnungen, menschliches Leid und Medizin sind seit Längerem Gegenstand historischer Forschungen, ohne dabei der Religion einen bevorzugten Platz einzuräumen. Die besondere Beziehung des Christentums zur Körperlichkeit (Kapitel V./S. 437–587) hängt mit der Inkarnation, Ekklesiologie (Kirche als Leib Christi) und der Abendmahlslehre zusammen, wie das Streben nach der imitatio Christi, Sexualität und moralische Besserung Bestandteile ethischer Betrachtungen sein können. Im Vergleich zu anderen Ländern hat das Themenfeld Ehe/Geburt/Stellung der Ehefrau im französischen Protestantismus kaum Beachtung gefunden.
Einleitend zu diesem Teil stellt Yves Krumenacker zu Recht fest: »Die Geschichte des ›protestantischen Körpers‹ ist noch eine Baustelle« (S. 450). Im Rahmen der obrigkeitlichen Sozialdisziplinierung behandelt Susanna Burghartz die Sexualität im 16. Jahrhundert »zwischen Faszination und Zwangsvorstellungen« (S. 451–466). Die Infragestellung des Zölibats und die Einschätzung der Keuschheit als widernatürlichem Zustand bestimmten die ethischen Debatten zu Beginn der Reformation, während sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in allen christlichen Konfessionen ein rigider Moralkodex durchsetzte: Eindämmung von Ausschweifung, Grenzziehung zur Keuschheit. Die Schließung von Freudenhäusern hat keineswegs die Beseitigung der Prostitution erreicht, sondern lediglich deren Verbannung in die Außenbezirke. Die Briefwechsel zwischen Männern höheren Standes zeigen an, wie stark die Sexualität vulgarisiert und damit die Grenzen sittlichen Anstandes überschritten werden konnten.
Der einzige, rein auf Luther bezogene Beitrag beschäftigt Susan Karant-Nunn über »Sexualität als christliche Freiheit« im Leben und Denken Luthers (S. 467–485): Für den Reformator bestand der Bruch mit seiner katholischen Vergangenheit in der »Verankerung der Sexualität im christlich ehrbaren Leben innerhalb der gefallenen Welt« (S. 469). Trotz mancher Äußerungen Luthers über die Unterordnung und Minderwertigkeit der Frau konnte er im Kontext anwachsender Frauenfeindlichkeit ein ausgewogenes Bild der Frau zeichnen – und doch blieb die Sexualität in der protestantischen Mentalität Sünde.
Die Beiträge in diesem hervorragend lektorierten Sammelband sind durchgehend aus den Quellen herausgearbeitet und berücksichtigen in ansprechender Weise neueste Forschungsliteratur. In ihrer Gesamtheit können sie geradezu als Plattform für weitere anthropologische Forschungen im Schnittpunkt von Sozial-, Kirchen- Religions-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte angesprochen werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gerhard Philipp Wolf, Rezension von/compte rendu de: Olivier Christin, Yves Krumenacker (dir.), Les protestants à l’époque moderne. Une approche anthropologique, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2017, 610 p., 7 p. de pl. (Histoire), ISBN 978-2-7535-5465-8, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51933