Im vergangenen Jahr 2017 wurde das fünfhundertjährige Jubiläum des Thesenanschlags von Martin Luther weltweit gefeiert. Zahllose Veranstaltungen, Kongresse und Ausstellungen zu diesem Ereignis, zur Reformation als solcher und zur Person Luthers wurden durchgeführt. Kaum verwunderlich ist es bei einem solch großen wissenschaftlichen wie populären Interesse, dass zu den unzähligen bereits vorhandenen Werken über die Reformation und Martin Luther viele weitere hinzugekommen sind. Der Autor der hier vorzustellenden Studie beginnt seine Ausführungen in einem Vorwort (»Preface«, S. IX–XII) daher mit einer Erklärung zu den Gründen seiner Publikation. Ihm geht es nach eigener Aussage um die Entwicklung von Luthers Ideen, und er benennt die aus seiner Sicht zentralen Aspekte im Denken Luthers umgehend: Glaubensgewissheit, die Bibel als göttliche Wahrheit, Rechtfertigung allein aus Gnade (S. Xf.).

Die vorzustellende Studie heißt: «The Making of Martin Luther«. Dieser griffige englische Titel führt bei einem deutschen Leser unwillkürlich zu Fragen: »Machte« Luther sich selbst, oder wurde er »gemacht«? Und wenn er »gemacht« wurde, dann von wem? Und zu was wurde Luther, wie und von wem »gemacht«? Da der Autor den Entwicklungsprozess im Denken Luthers darstellen möchte, spielen verschiedene Aspekte der angesprochenen Fragen für ihn eine zentrale Rolle, indem die Verwobenheit der eigenen, inneren Auseinandersetzungen Luthers mit den äußeren Einflüssen aufgrund von Reaktionen auf seine Publikationen durch Freunde und Gegner gleichermaßen analysiert werden soll. Es geht dem Verfasser somit um »das Werden Martin Luthers« zum dem, was wir heute »den Reformator« nennen. Dies ist kein neuer Ansatz, doch der Verfasser reklamiert für sich eine neue Sichtweise, da in der Vergangenheit Luther häufig falsch verstanden worden sei (S. X).

Die Darstellung beginnt mit dem Thesenanschlag Luthers und der über fünfzigjährigen wissenschaftlichen Kontroverse darüber, ob dieses Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat (»Wittenberg 1517«, S. 1–21). Der Autor verortet sich dabei selbst auf der Seite der Kritiker und lehnt die Vorstellung eines »hammerschwingenden« Luthers ab. In diesem ersten Kapitel findet überdies eine kurze Beschäftigung mit dem Inhalt der 95 Thesen statt. Der Verfasser insistiert dabei darauf, dass Luther mit den Thesen weder Popularität gesucht oder die päpstliche Autorität in Frage stellen wollte (S. 4), sondern dass es ihm um die Ablasspraxis und damit um die Frage einer zu einfach zu erwerbenden Vergebung von Sünden gegangen sei (S. 19f.).

Die folgenden neun Kapitel sind chronologisch aufgebaut, wenngleich gelegentlich auch Rückgriffe auf Ansichten in früheren Jahre bzw. Ausblicke auf Meinungsäußerungen in späteren Jahrzehnten erfolgen. Zunächst wird im Kapitel »From Erfurt to Wittenberg« Luthers Werdegang im Orden und die Übernahme der Professur in Wittenberg geschildert. Es folgt die Darstellung der ersten Jahre von Luthers Tätigkeit an der Wittenberger Hochschule. Bei der Schilderung der Romreise Luthers wird leider die Arbeit von Hans Schneider1 nicht berücksichtigt. Wie die Kapitelüberschrift »The Catholic Luther« verrät, verortet der Verfasser Luthers Ideen, Ansichten und Überzeugungen vor dem Hintergrund mittelalterlicher Frömmigkeit. Entsprechend seines Vorhabens, wird Luthers Entwicklung prozesshaft geschildert und die »reformatorische Wende« verhältnismäßig spät (vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema) in das Jahr 1518 datiert.

Im darauffolgenden Kapitel »The Quest for Certainty« wird Luthers Rechtfertigungslehre allein aus Glauben und seine Ablehnung von der Notwendigkeit guter Werke zur Seligkeit erörtert. Vermutlich handelt es sich um einen kleinen Übersetzungsfehler, wenn an einer Stelle des Kapitels »certainty« in lateinischer (certitudo) und deutscher Übersetzung (Sicherheit) widergegeben wird (S. 73). Denn gegen die Vorstellung von einer »Glaubenssicherheit« hat Luther immer wieder polemisiert und gestritten, nicht zuletzt im Ablassstreit, wohingegen es ihm um »Glaubensgewissheit« auf der Basis der biblischen Botschaft ging.

Im fünften Kapitel (»Intimations of Antichrist«) wird die sich auftuende Frontstellung zum Papsttum vor dem Hintergrund seines Verhörs vor Kardinal Cajetan geschildert. Es folgt mit »Luther and Eck« vornehmlich die Beschäftigung mit der Leipziger Disputation von 1519. Daraufhin wird der Prozess in Rom gegen Luther sowie die diplomatischen Initiativen der Jahre 1519/1520 dargestellt (»Rome and Wittenberg«). In diesem Zusammenhang werden die großen Reformationsschriften des Jahres 1520 analysiert und festgestellt, dass sich Luther mit der Schrift »Von der babylonischen Gefangenschaft« vom Reformer zum Revolutionär entwickelt habe (S. 150). Das achte Kapitel beschäftigt sich mit »Worms and the Wartburg« sowie den ersten Friktionen innerhalb der evangelischen Bewegung in Wittenberg durch die Veränderungen, die Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, während Luthers Abwesenheit aus Wittenberg dort umzusetzen versuchte. Die zunehmenden Kontroversen unter den Evangelischen (Karlstadt, Müntzer), die Problematik der Behauptung einer objektiven Wahrheit vor dem Hintergrund des sola-scriptura-Prinzips, die Obrigkeitslehre usw. werden im Kapitel »The Beginning an End of Reformation« beleuchtet. Abschließend folgt die Beschäftigung mit Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam über den freien Willen und zusammenfassende Bemerkungen im letzten Kapitel »The Meaning of Martin Luther«.

Das Buch zeichnet sich durch Thesenfreudigkeit aus, die zu Diskussionen einlädt. So lässt sich z. B. über die Aussage streiten, dass es bei Luther keine Ekklesiologie gebe (S. 156), da für Luther die Kirche unsichtbar sei. Ebenso stellt sich die Frage, ob Luthers Obrigkeitslehre und Zwei-Reiche-Lehre zutreffend dargestellt werden (z. B. S. 194–197). Auch die Aussage, Luther habe sein Gewissen und seine Individualität von jeglicher weltlichen Untertänigkeit vollständig emanzipiert, so dass ihm spätestens seit 1530 niemand mehr irgendetwas vorgeschrieben habe (S. 229), erscheint stark von heutigen Vorstellung von Individualität geprägt zu sein. Sodann ist auch die implizite Feststellung, die das »Ende der Reformation« in die Mitte der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts datiert, diskussionswürdig.

Die Stärken des Buchs liegen in seiner verständlichen Sprache und Argumentation. So ist die Schilderung des Herauswachsens von Luthers Denken aus mittelalterlichen theologischen Zusammenhängen gut nachvollziehbar. Es gelingt dem Verfasser, die bereits im Vorwort von ihm benannten zentralen Aspekte in Luthers Denken deutlich zu machen. Die Einordnung des Prozesses von Luthers Entwicklung in die jeweils konkreten Zeitumstände ist luzide, d. h. die Darstellung von Luthers Entwicklung erfolgt entlang der Themen, die in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern erörtert werden. Dies ist an sich nicht unbedingt als neue Erkenntnis zu werten, doch kann die Darstellung für sich in Anspruch nehmen, dies erneut klar dargestellt zu haben.

1 Hans Schneider, Martin Luthers Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet, in: Werner Lehfeldt (Hg.), Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte ,Berlin, New York 2011 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF 10), S. 1–157.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jan Martin Lies, Rezension von/compte rendu de: Richard Rex, The Making of Martin Luther, Princeton (Princeton University Press) 2017, XIV–279 p., ISBN 978-0-691-15515-9, GBP 22,95., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51945