»Wir leben hier in einer Kolonie, hieß es unter uns Professoren. Wir fühlten uns wie auf einem alten vulkanischen Boden von herrlicher Fruchtbarkeit, der zuerst uns ganz ruhig geworden schien und nun schon in eine leise Unruhe wieder geriet. Das gab fast unbewusst unserem ganzen Dasein, Denken und Empfinden eine innere Spannung, die auch unserer wissenschaftlichen Arbeit, wie ich glaube, nicht übel ausschlug« – für den Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) war seine erste Professur an der Kaiser-Wilhelms-Universität in Straßburg von bleibender Erinnerung, auch wenn er schon nach fünf Jahren nach Freiburg wechselte.

Er war 1901 gemeinsam mit seinem katholischen Fachkollegen Martin Spahn (1875–1945) berufen worden, der sich bis Ende des Ersten Weltkriegs als Stadtrat und Mitglied des Landtages aktiv in die elsässische Politik einmischte. Spahns explizit an seine katholische Konfession gebundene Berufung, Bestandteil einer umfassenden Vereinbarung der deutschen Reichsleitung mit dem Vatikan zwecks Gründung einer katholischen Theologischen Fakultät in Straßburg, löste damals den »Werturteilsstreit« aus, in dem der alte Theodor Mommsen die Freiheit der Wissenschaft in ernster Gefahr sah. Ausführliche lexikalische Informationen zu diesen Personen und der »Affäre Spahn« finden sich im vom Straßburger Kunsthistoriker Roland Recht und dem Metzer Historiker Jean-Claude Richez herausgegebenen »Dictionnaire culturel de Strasbourg 1880–1930«.

Auf fast 600 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen versehen, wurde von über 150 Fachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen in 700 Lemmata eine beeindruckende Vielfalt von historischen Informationen zur elsässischen Kulturgeschichte mit Fokus auf die Stadtgeschichte Straßburgs zusammengetragen, das sich in diesem Zeitraum von einem provinziellen Grenz- und Garnisonsstädtchen zu einer modernen Großstadt und regionalen kulturellen Metropole am Oberrhein wandelte. Straßburgs Grenzlage am Rhein, seine historische Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturraum, der zweimalige nationale Besitzwechsel (1871 und 1918), die politische Konfrontation, aber auch die Möglichkeiten eines kulturellen Transfers an der Schnittstelle zwischen Deutschland und Frankreich ließen die Stadt zu einem pulsierenden Begegnungsort werden, der manche Zeitgenossen im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkrieg an einen (noch) schlafenden Vulkan erinnerte.

Dieses überaus beeindruckende Lexikon, das für jeden an der elsässischen Geschichte und Kultur Interessierten eine Unmenge an biographischen und thematischen Einzelinformationen bereitstellt, entstand im Zusammenhang mit der noch aktuellen Ausstellungsreihe verschiedener Straßburger Museen, zu der es einen eigenen Katalog und einen vielfältigen Internetauftritt (https://www.musees.strasbourg.eu/de/straslab) gibt. Für vertiefende Informationen erhält der Leser zu jedem Artikel Hinweise auf weiterführende Literatur. Die Lemmata wurden überwiegend von Straßburger Fachwissenschaftlern und –wissenschaftlerinnen geschrieben: Historiker, Kunst- und Literaturhistoriker, Theologen, Musikwissenschaftler, Stadtsoziologen, Museumskonservatoren und Bibliothekare; nur ganz vereinzelt finden sich auch deutsche Autoren und Autorinnen (die Historikerin Anne Kwaschik, der Architekturhistoriker Klaus Nohlen).

Etwa ein Dutzend der 700 Lemmata sind als ausführlichere Schwerpunktartikel angelegt: Hier finden sich Informationen zur Bevölkerungs- und Stadtentwicklung, zur städtischen Architektur, zur Kaiser-Wilhelms-Universität und ihrer Nachfolgerin, der Université de Strasbourg, an der die Annales-Schule der Straßburger Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch gegründet wurde, zur Bibliothèque nationale et universitaire (BNUS), zur elsässischen Literatur, zur Erweiterung der Straßburger Museumslandschaft mit dem Musée alsacien und der Kunstgewerbeschule/École supérieure des arts décoratifs, dem Umbau der Aubette an der Place Kléber in den 1920er Jahren zu einem Kultur- und Vergnügungszentrum, dessen Innenausstattung durch Jean (Hans) Arp und Sophie Taeuber-Arp vorgenommen wurde (heute unter Denkmalschutz stehend), zur Restaurierung des Straßburger Münsters und zur politischen Presselandschaft.

Eine umfangreiche, thematisch strukturierte Zeittafel im Anhang macht nochmals die inhaltlichen Schwerpunkte des Lexikons deutlich: Neben dem politisch-sozialen Leben, den Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften, dem künstlerisch-kulturellen Leben interessieren vor allem die Stadtentwicklung und die Architektur. Mehrere Stadtpläne verdeutlichen den rapiden Aufstieg Straßburgs zur Großstadt und seine räumliche Umstrukturierung durch neue Stadtviertel (das heutige Weltkulturerbe der Straßburger »Neustadt«), Abriss alter Bausubstanz und Straßendurchbrüchen (»grande percée«). Kartenmaterial zur Lokalisierung von öffentlichen Bauten, Denkmälern, Bibliotheken, Kulturorten, öffentlichen Badeanstalten, Bistrots und Restaurants sowie Wohnorten der Universitätsdozenten ergänzen das Anschauungsmaterial.

Das Lexikon »Dictionnaire culturel de Strasbourg« füllt eine empfindliche Lücke zur elsässischen Kulturgeschichtsschreibung der deutschen und französischen Zeit zwischen dem deutsch-französischen Krieg und dem Ende der Zwischenkriegszeit. Lange vorbei sind inzwischen die Zeiten, in denen die deutsche Reichslandzeit von der französischen Forschung entweder ignoriert oder als bloße Okkupationszeit beschrieben wurde. Die Verdienste der deutschen Politik – trotz wilhelmischem Obrigkeitsstaat und preußischem Militarismus – sind auch heute noch im Stadtbild unübersehbar und werden seit einigen Jahren auch bewusst als eigenes kulturelles Erbe angenommen und vermarktet. Die Blütezeit der Straßburger Kultur mit ihrer vielfältigen Museumslandschaft, der deutschen, französischen und elsässischen Literatur, überdauerte auch den Ersten Weltkrieg und setzte sich in der französischen Nachkriegszeit fort, wobei die jeweiligen nationalen Machtzentralen in Berlin und Paris die Entstehung und Ausbreitung der regionalen elsässischen Identität mit großem Misstrauen begegneten und sie zum Teil auch massiv bekämpften. Die Akteure der »Elsässischen Renaissance« seit den 1890er Jahren, unter ihnen der Künstler Charles Spindler und der frankophile Arzt Pierre Bucher, ihre dreisprachige (Deutsch, Französisch und Elsässisch) »Revue alsacienne illustrée/Illustrierte elsässische Rundschau« werden ebenso vorgestellt wie die in Deutschland weitgehend unbekannte Künstlerkolonie Cercle de Saint-Léonard. Bemerkenswert ist die Ausdifferenzierung mancher Themen wie die der Musik in einen eigenen katholischen, protestantischen und jüdischer Artikel, informativ die thematischen Lemmata über die Geschichte der einzelnen Fachwissenschaften im Untersuchungszeitraum.

Der Leser bzw. die Leserin kann das Lexikon sowohl als Nachschlagewerk benutzen als auch als ein spannendes, vielfältiges Lesebuch, das ihn in die Kulturgeschichte dieses Grenzlandes einführt. Bei dem vorliegenden Angebot von über 700 Lemmata ist es fast vermessen, noch auf Ungleichgewichte oder fehlende Informationen hinzuweisen – trotzdem: Auch bei diesem aktuellen elsässischen Lexikon ist immer noch ein Unbehagen gegenüber den regionalistischen bzw. autonomistischen Tendenzen in der elsässischen Geschichte zu verspüren: Der Artikel über »Autonomismus« wird diesem zentralen Thema der elsässischen Identität in Umfang und Inhalt nicht gerecht, biografische Einträge über den Heimatbund, den elsässischen Kulturpolitiker und Verleger Friedrich Spieser und den »NS-Märtyrer« Karl Roos sucht man ebenso vergeblich wie das Thema der commissions de triage, die die elsässische Bevölkerung nach Weltkriegsende auf der Grundlage der jeweiligen »nationalen Abstammung« einstufte; massenhafte Ausweisungen folgten, von denen auch fast die gesamte Universitätsdozentenschaft betroffen war. Bemerkenswert ist auch das Fehlen eigenständiger Artikel über Antisemitismus und die Dreyfus-Affäre. Diese Kritik soll aber den immensen Fortschritt, den dieses Lexikon für die elsässische Kulturgeschichtsschreibung mit sich bringt, nicht schmälern. Es wird für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ein unverzichtbares Nachschlagewerk bleiben und sollte zu weitergehenden Forschungen auf deutscher und französischer Seite anregen.

Roland Recht, Joëlle Pijaudier-Cabot (dir.), Laboratoire d’Europe, Strasbourg 1880–1930, Strasbourg, 2017.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Möhler, Rezension von/compte rendu de: Roland Recht, Jean-Claude Richez, Isabelle Laboulais, Émilie Oléron Evans, (dir.), 1880–1930: Dictionnaire culturel de Strasbourg, Strasbourg (Presses universitaires de Strasbourg) 2017, 597 p., nombr. ill., ISBN 978-2-86820-988-7, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2018/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.3.51946