Das hier vorzustellende Buch, das in Kooperation von Damien Boquet und Piroska Nagy aus dem EMMA-Forschungsprogramm (»Emotions in the Middle Ages«) entstanden und eine englische Übersetzung des 2015 erschienenen Buchs »Sensible Moyen Âge. Une histoire des émotions dans l’Occident médiéval« ist, beschäftigt sich mit der Bedeutung und Entwicklung von Emotionen im mittelalterlichen (westlichen) Europa. Nun ist es nicht so, als ob dieses Thema bisher nicht behandelt worden wäre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Emotionen in der Gesellschaft als immer wichtiger erachtet, was nicht ohne Einfluss auf die Geschichtswissenschaft und die Mediävistik blieb. Vor allem seit den 1980er Jahren kam es zu einem regelrechten »emotional turn« in den Geisteswissenschaften, der den Emotionen und ihren Ausdrucksformen einen wichtigen Part in den Gesellschaften zugestand. Während Emotionen vorher durchaus Bestandteil von historischen Studien waren, ohne jedoch die Historizität der geschilderten Emotionen infrage zu stellen und ihre fortdauernde Definition zu überdenken, kamen in den 1980er Jahren neue Analysen und Untersuchungsmethoden auf (als namhafte Forscher sind hier zu nennen Barbara H. Rosenwein, William M. Reddy und Stephen Jaeger).

Aufbauend auf den Studien dieser und weiterer Forscherinnen und Forscher arbeiten sich der Autor und die Autorin durch das komplexe Thema der mittelalterlichen Emotionen. Dabei präferieren Nagy und Boquet anstelle des Begriffs der »Emotion« den Begriff »sensibility« (französisch »sensibilité«, S. 6), der von Lucien Febvre und der Annales-Schule verwendet wurde. Sie betonen die Wichtigkeit nicht nur impulsiver Faktoren wie Leidenschaft, Affekte oder Impulse für Empfindungen, sondern auch beständigere Faktoren wie Atmosphäre, Stimmungen oder charakterliche Merkmale. Zudem unterscheiden die Autoren in diesem Buch bewusst nicht zwischen gefühlten und ausgedrückten Emotionen. Der Grund hierfür ist, dass laut Damien Boquet und Piroska Nagy auch geäußerte Emotionen eine eigene soziale und kulturelle Wirksamkeit haben und (ganz pragmatisch) die einzigen Emotionen sind, zu denen Historikerinnen und Historiker Zugang haben. Dieser Pragmatismus durchzieht das gesamte Buch, was eine angenehme Klarheit bewirkt.

Klarheit spiegelt sich auch in der Gliederung wider. Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der Wichtigkeit der Emotionen im christlichen Menschenbild. Geprägt von den Kirchenvätern wurden vor allem Liebe und Leiden seine zentralen Elemente. Die Liebe zu Gott war essenziell, aber dennoch Normen unterworfen und musste teilweise erst erlernt werden, wozu die Ausbildung von Klerikern diente, die ihr ganzes Leben auf Gott ausrichteten. Die klerikalen und vor allem monastischen Institutionen wurden zu einer Art »Laboratorium« für die Deutung der Emotionen der gesamten Gesellschaft. Im 5. bis 10. Jahrhundert (Kapitel 3) wird dies besonders deutlich, als neue Konzepte von Emotionen zunächst im monastischen Bereich auftauchten, bevor sie dann in die gesamte Gesellschaft übergingen. Besonders die Konzepte von Liebe, die in wahrer Freundschaft und Wohltätigkeit ausgedrückt wurde, kamen in der Karolingerzeit und später in der Kirchenreform im 11. und 12. Jahrhundert auf.

Kapitel 4 zeigt eindrucksvoll, wie die Reform auf die monastischen Institutionen wirkte und welche Bedeutung den Emotionen zukam. Sogar der direkte Kontakt zu Gott wurde durch den wahrhaften Ausdruck von Emotionen als möglich erachtet.

Das folgende Kapitel widmet sich dann der höfischen, volkssprachigen Literatur vom 11. bis 13. Jahrhundert. Der Autor und die Autorin können zeigen, welche komplexe emotionale Kultur an den Höfen dieser Zeit entstand, die teilweise den monastischen Konzeptionen ähnelte, aber auch mit ihnen in Konflikt geraten konnte. Kapitel 6 zeigt dann, wie im Laufe des 11., 12. und 13. Jahrhunderts Emotionen stetig stärker in monastischen und urbanen Schulen als Bestandteil der menschlichen Natur integriert wurden. Emotionen wurden nun noch positiver gesehen, was im späteren Mittelalter in den politischen Theorien und Praktiken des fürstlichen Regierens deutlich wird. Emotionen des Herrschers spielten eine wichtige Rolle in seinem politischen Handeln und seiner Selbstdarstellung, wie in Kapitel 7 gezeigt wird. In der religiösen Sphäre erlebten die Emotionen auch eine neue Intensität (Kapitel 8). Die Fokussierung auf die Passion Christi und seine Menschwerdung stärkte die religiöse Wirksamkeit der Emotionen. Emotionen wurden zu einer Grundlage des gefühlsbedingten Mystizismus (»affective mysticism«) des 13. und 14. Jahrhunderts.

Nachdem in den vorherigen Kapiteln vor allem die Emotionen der klerikalen und säkularen Eliten behandelt wurden, ist das letzte Kapitel schließlich den »einfachen Menschen« und ihren Emotionen gewidmet, vor allem in den Städten. Das Kapitel konzentriert sich auf das spätere Mittelalter, da für diese Zeit weitaus bessere Quellen über die Emotionen der einfachen Bevölkerungsschichten zur Verfügung stehen. Die Autoren stellen hier heraus, wie wichtig Emotionen gerade in den sozialen Beziehungen der »einfachen Leute« waren.

Damien Boquet und Piroska Nagy haben ein wichtiges Buch vorgelegt, das keine individuelle Geschichte der Emotionen vorschlägt, sondern eine anthropologische. Es ist ein Argument für die Zentralität der Emotionen im Menschenbild des mittelalterlichen Westeuropas und bietet eine spannende und lehrreiche Reise durch die Geschichte mittelalterlicher Empfindungen. Das Buch zeichnet ein Bild vom Mittelalter als »emotionale Epoche«, in der auf allen Ebenen Empfindungen und Emotionen eine wichtige Rolle spielten. Das antike Ideal von Selbstkontrolle wurde schrittweise verdrängt durch eine Vorstellung von Gott und Menschen, die gemeinsam durch eine emotionale, sogar leidenschaftliche Beziehung verbunden waren.

Dennoch war das Verhältnis zu Emotionen durch Ambivalenz geprägt. Einige Emotionen wurden als verständlich und positiv betrachtet, andere als schlecht. Die Bewertung von Emotionen unterschied sich folglich in Bezug auf soziale Gruppen, Geschlecht, Alter, Kontext und Textgenres (vor allem Wundergeschichten, volkssprachige Literatur und Gedichte scheinen speziell auf eine emotionale Rhetorik zurückzugreifen). Interessant ist, dass die positive Bewertung von Emotionen für eine beträchtliche Zeit dem Adel und seiner Repräsentation vorbehalten gewesen zu sein scheint (höfische Liebe, Freundschaft), während die Emotionen einfacher Menschen als exzessiv, teilweise sogar unwürdig bewertet wurden (S. 249). Deutlich wird, dass die Eliten die Deutung von Emotionen dominierten und dass insbesondere christliche (monastische) Vorstellungen einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung von Emotionen hatten, die sich dann auf die gesamte Gesellschaft übertrugen.

Auch wenn nicht jeder den Autoren in allen Punkten dieser Studie zustimmen mag, so ist dieses Buch ein Gewinn für die Erforschung mittelalterlicher Emotionen. Es ist ein lesenswertes Buch, das unter Berücksichtigung eines vielschichtigen Korpus an Quellen vor Augen führt, wie wichtig die Erforschung von Emotionen für unser Verständnis des Mittelalters ist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Julia Exarchos, Rezension von/compte rendu de: Damien Boquet, Piroska Nagy, Medieval Sensibilities. A History of Emotions in the Middle Ages. Translated by Robert Shaw, Cambridge, UK; Medford, MA (Polity Press) 2018, XIV–364 p., 13 col. pl., ISBN 978-1-50951-466-3, GBP 55,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57350