Das hier besprochene Buch, das einer an der Universität Zürich eingereichten Dissertation von Sophie Caflisch erwuchs, ist in vielerlei Hinsicht beachtens- und empfehlenswert. Anhand eines immens breiten Quellenmaterials, dessen zeitlicher Schwerpunkt im Hoch- und Spätmittelalter liegt, untersucht die Autorin Spielnormen und Spielformen, denen Relevanz zur Vermittlung von körperlichen Fertigkeiten, von moralischen Werten und von Wissen im Allgemeinen und Konkreten beigemessen wurde. Caflisch gelingt es dabei nicht nur, einzelne bestehende Forschungslücken zu schließen und moderne Forschungsthemen zu bündeln, sondern auch eine detailreiche und spannende Phalanx in die vielerorts in stetigem Aufschwung befindliche historische Spieleforschung zu schlagen.
Ihrer sehr knapp gehaltenen, aber theoretisch wohldurchdachten Einleitung, in der sie ihr Forschungsinteresse, den komplexen Forschungsstand, die Quellenlage und ihre Methode vorstellt, folgen vier Kapitel. In dem ersten mit »Spiel und Bildung. Theoretische und historische Grundlagen« überschriebenen Kapitel diskutiert die Autorin zunächst das Spiel als Gegenstand der Wissenschaft. Hier befasst sie sich mit den nach wie vor bestehenden klassischen Dilemmata der Spieleforschung. Sie analysiert sprachliche Zugänge, solche der Spielpädagogik und der pädagogischen Anthropologie und, natürlich, die wegweisenden Spieltheorien von Johan Huizinga und Roger Caillois, wobei sich insbesondere letztere als außerordentlich fruchtbar für Caflischs Arbeit (etwa in der späteren Abgrenzung des Spiels vom Tanzen oder der Musik) erweist.
Sodann folgt in diesem Kapitel ein komplexer Abschnitt über die antiken und frühmittelalterlichen Grundlagen von Spiel und Erziehung. Dabei bezieht Caflisch die Positionsbestimmungen von Platon und Aristoteles, Cicero, Quintilian und Tacitus ebenso ein wie die frühe biblische Tradition und die Spielbewertungen der Kirchenväter, des in seiner Wirkung bislang unterschätzten Sidonius Apollinaris und Isidors von Sevilla. Auch die Spielvorschriften in der christlichen Rechtstradition, zum Glücksspiel oder konkret im kanonischen Recht finden hier ihren Platz.
Im zweiten Kapitel (»Corpus«) befasst sich Caflisch mit den Bewegungsspielen und den mimetischen Spielen. Wieder steigt sie theoretisch ein und erläutert stringent den Stand der Bewegungskulturforschung, auch im Hinblick auf den Unterricht im Mittelalter. Gleich danach bricht sie völlig zu Recht eine Lanze für die wissenschaftliche Anerkennung des Bewegungssports in der »vormodernen« monastischen Erziehung. Sie begibt sich hinein in Hildemars Ausführungen zum Turnen, beleuchtet die körperlichen Betätigungen in den Klosterschulen des 11. Jahrhunderts und analysiert die Funktion der Bewegungsspiele zur Schulung von Kindern und Novizen sowie die Erziehungskonzeption des Hugo von St. Viktor. Ein eigenes Kapitel gewährt Caflisch auch dem jeu de paume, der wohl in nordfranzösischen Klöstern erfundenen Vorform des modernen Tennis. Nach diesem Blick in das religiose Leben des Mittelalters und einem knappen Exkurs in die körperlichen Betätigungen an den Universitäten folgt ein weiterer gelungener Abschnitt zu Bewegungsspielen an europäischen Höfen. Mit Spanien, Frankreich, England, Italien und dem Reich untersucht Caflisch dabei einen weitumspannten geografischen Raum. Es folgen Analysen zu Bewegungsspielen in humanistischen Erziehungstraktaten, die Caflisch richtigerweise in die Tradition des Mittelalters stellt. Damit widerspricht sie der gängigen Überbewertung des Humanismus als alleinigen Initiators einer neuen Körperbewertung.
Im dritten Kapitel (»Virtus«) geht die Autorin dem im Mittelalter viel diskutierten Sujet von Spiel und Tugend nach. Heuristisch unterscheidet sie dabei »Tugend beim Spiel«, »Tugend durch Spiel« und »Spiel als Tugend« – drei Kategorien, die freilich komplementär sind. In erster Hinsicht nehmen die scholastischen Debatten und die Eutrapelia-Konzeptionen des Albertus Magnus und des Thomas von Aquin breiten Raum ein. In zweiter Hinsicht stehen caritas, prudentia und fortuna im Vordergrund, mithin das Würfelspiel des Wibold von Cambrai, Schachspiele, das so genannte »Geistliche Würfelspiel« für Nonnen aus Salem und das Globusspiel des Nikolaus von Kues. In dritter Hinsicht befasst sich Caflisch mit der Funktion des Brettspiels und des Schachs in der höfischen Kultur und beiden als Unterrichtsinhalten in den Chansons de geste, der höfischen Dichtung und in ausgewählten Chroniken. Auch analysiert die Autorin kurz die Lehrbuchsammlungen namentlich des späten Mittelalters.
Das vierte Kapitel widmet Caflisch der Wissenschaft (»Scientia«). Sie begibt sich hinein in den vermeintlichen Gegensatz von Lernen und Spielen in hagiografischen Texten und erklärt die auch auf Quintilian fußenden haptischen Methoden des Mittelalters. Besonders instruktiv sind die folgenden Analysen zur Vermittlung des Triviums und Quadriviums. Hier beleuchtet Caflisch akribisch nicht nur erstmals vergleichend das Evangelienspiel des Eusebius oder die »Grammatica figurata« des Mathias Ringmann, sondern sie führt sie perspektivisch mit den Spieltheoremen Hugos von St. Viktor, der Gelehrtensatire »De Vetula« oder der Rhythmomachie zusammen. Zudem legt die Autorin Wert auf die Kontexte der handschriftlichen Überlieferungen. Den Abschluss dieses Kapitels bilden Untersuchungen zur Schule von Abaco, zum Astronomenspiel und zu Thomas Murners Lernspielen.
Das Buch ist hervorragend strukturiert: Jedem der vier Kapitel folgen eigene Zusammenfassungen, welche gemeinsam wiederum in eine perspektivreiche Schlussbetrachtung münden. Den Band erschließt ein sorgfältig erstelltes Register der Personen, Orte, Spielformen und - kategorien sowie der benutzten Handschriften. Der Autorin ist es durch die bereits genannte Vielzahl an bearbeiteten Quellen (lateinische und volkssprachliche Erziehungstraktate, Medizintraktate, Spieltraktate, Chroniken oder etwa höfische Prosa) gelungen, die Sphären von Kirche, Universität und Hof mit denen von Spiel und Erziehung in überzeugender Weise zusammenzuweben. Der umfangreiche Einbezug aktueller, internationaler Literatur verortet das Buch am Puls der aktuellen Forschung. Sophie Caflisch reiht sich damit in die Reihe derjenigen ein, welche das Bild vom finsteren Mittelalter anhand des Spiels in innovativer Weise aufgehellt haben.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Sonntag, Rezension von/compte rendu de: Sophie Caflisch, Spielend lernen. Spiel und Spielen in der mittelalterlichen Bildung, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2018, 468 S. (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 58), ISBN 978-3-7995-6768-8, EUR 46,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57365