Unn Falkeid, Professorin im Fach History of Ideas in Oslo, legt nun, nach vorangegangenen Publikationen zu Dante und Petrarca, eine Monografie vor, die einen geistesgeschichtlichen Bogen über das 14. Jahrhundert spannt. Gemeinsames Moment der sechs von ihr behandelten mittelalterlichen Autoren ist deren Kritik am Papsttum in Avignon vor dem Großen Abendländischen Schisma, also von der Übersiedlung Papst Clemens’ V. 1309 nach Avignon bis zur Rückkehr Gregors XI. nach Rom 1377/1378. Sie wählt dazu den Poeten Dante Alighieri (1265–1321), den Arzt und Philosophen Marsilius von Padua (vor 1287–ca. 1342), den franziskanischen Theologen Wilhelm von Ockham (um 1285–ca. 1347), den Humanisten Francesco Petrarca (1304–1374), die adlige Heilige Birgitta von Schweden (1303–1373) und die Heilige Katharina von Siena (1347–1380) aus, die in Kapiteln, die etwa der Chronologie der Lebensdaten folgen, behandelt werden.
Eine solche Darstellung kann kaum die umfangreichen Forschungstraditionen zu jedem der genannten Autoren oder Autorinnen berücksichtigen, und das tut Falkeid auch nicht. Sie beschränkt sich auf die Erörterung einer jeweiligen Auswahl der Werke ihrer Protagonisten, die jeweils aus ganz unterschiedlichen Textgattungen stammen, nämlich politischen Traktaten, Briefen, literarischen Erzeugnissen im weitesten Sinne oder Visionstexten.
Im Kapitel über Dante diskutiert Falkeid die »Monarchia« und den »Paradiso VI« der »Divina Commedia«, die heute beide auf das Jahr 1317 datiert werden. Im anschließenden Kapitel über Marsilius untersucht sie dessen politisches Hauptwerk, den »Defensor pacis« von 1324, dem sie zudem Dantes »Inferno VI« gegenüberstellt. Ockham wird allein anhand des kurzen »Breviloquium de principatu tyrannico« von ca. 1342 diskutiert. Untersuchungsgegenstand im Kapitel über Francesco Petrarca ist vor allen sein Brief an den in Rom regierenden »Volkstribun« Cola di Rienzo aus dem Jahr 1347. Von Birgitta von Schweden, die im Heiligen Jahr 1350 nach Rom übersiedelte, behandelt Falkeid die Briefe an die Päpste dieser Zeit bis zu ihrem Tod 1373, die in der Sammlung der »Revelaciones« überliefert sind. Das letzte der sechs, von Falkeid etwas überhöht als »Fallstudien« bezeichneten Kapitel untersucht den im Volgare niedergeschriebenen »Dialogo della divina provvidenza« der Katharina von Siena aus den Jahren 1377/1378. Das Buch schließt mit einem Ausblick.
Falkeids Arbeit bietet eine bereichernde Lektüre, welche die Vielfalt der Stimmen in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Papsttum in Avignon in einer Weise zum Sprechen bringt, die in Übersichtswerken zur politischen Philosophie oder Theorie nicht zu finden ist. Vor allem ihr weites Verständnis von politischem Denken bringt sie dazu, zu den als politischen Denkern (zu Recht) bekannteren historischen Figuren Dante, Marsilius und Ockham auch Petrarca und vor allem die Frauen Birgitta von Schweden und Katharina von Siena als Teilnehmerinnen am politischen Diskurs in der Avignoneser Epoche des Papsttums vorzustellen. Eine besondere Stärke ihres Buches ist die fortwährende Kontextualisierung der auf Einfluss und politische Wirksamkeit bedachten Äußerungen ihrer sechs Protagonisten in die realgeschichtlichen Anlässe, Umstände und die – eventuellen – Folgen ihres intellektuellen Eingreifens.
Irritierend ist jedoch, dass Falkeid sehr allgemein die Gemeinsamkeit – und damit Gleichrangigkeit als politische Denker? – der Protagonisten postulieren will, wenn sie sechs prominente Kritiker des Avignoneser Papsttums untersucht, welche die Legitimität des Anspruchs auf säkulare Macht der Päpste bezweifeln und grundlegende Reformen der Kirche fordern (S. 5). Dem kann man nur zustimmen, wenn man sich als Leser bzw. Leserin unter den geforderten grundlegenden Reformen der Kirche auch und vor allem die Rückkehr des Papstes nach Rom vorstellt, was in Falkeids Diskussion der Äußerungen von Petrarca, Birgitta von Schweden und Katharina von Siena doch die dominante Stellung einnimmt. Tatsächlich überwiegt in der ersten Hälfte des Buches, bei Dante, Marsilius und Ockham, die Kritik am weltlichen Herrschaftsanspruch der Avignoneser Päpste, vor allem an Johannes XXII. (1316–1334), während in der zweiten Hälfte, bei Petrarca, Birgitta von Schweden und Katharina von Siena, die Kritik an der Residenz der Päpste in Avignon die größere Rolle spielt. Der eigentlich auffällige Befund, dass es im Laufe der Avignoneser Periode einen Wechsel im Schwerpunkt der Kritik gegeben hat, geht unter.
Diese zwei unterschiedlichen Schwerpunkte werden auch im Titel des Buches überspielt. Der für ihn gewählte und im weiteren Text immer wieder verwendete Begriff »Avignon Papacy« besitzt eine von der Verfasserin jedoch nicht angesprochene Ambiguität. Denn zum einen richtet sich der Fokus der im Buch diskutierten Kritiker gegen die Ausweitung der Machtansprüche und ihre zunehmende Realisierung durch die Päpste der Avignoneser Periode, zum anderen jedoch vor allem gegen die Residenz der Päpste in Avignon statt in Rom, die sich zunehmend und immer gewisser zu verstetigen drohte. Wohl nicht ganz zufällig ist im Titel mit »contested«ein Beiwort gewählt worden, dessen Bedeutung mit Blick auf die ganz unterschiedliche Ansprache und Radikalität der zeitgenössischen Kritik an dem jeweils gemeinten Aspekt des »Avignon Papacy« durchaus changiert.
In der Einleitung unternimmt es die Verfasserin wiederholt und in unterschiedlicher Form, eine Zusammengehörigkeit ihrer sechs Protagonisten zu beweisen. Nur ein Beispiel ist: »Intriguingly, all six authors were connected to one another, by textual transmissions, by more or less implicit [!] references to each other, or [!] by a common network of acquaintances, collaborators, and friends« (S. 6 und ähnlich S. 13.). Warum sie das – wenig überzeugend – tut, bleibt ein Rätsel. Ihre Absicht, den an der Geschichte des politischen Denkens interessierten Lesern einen erweiterten Blick auf eine der interessantesten Perioden der mittelalterlichen Papstgeschichte zu geben, ist auch ohne diese – oder vielmehr: trotz dieser – methodologischen Rechtfertigungsversuche lesenswert.
Ergänzen lässt sich, dass etwa auch bei Marsilius von Padua die Frage der rechten päpstlichen Residenz angesprochen wird. Marsilius tut dies im Zusammenhang mit seiner Erörterung der Frage, ob unter den Bischöfen der Weltkirche derjenige von Rom zu Recht eine universale Leitungsfunktion in der Kirche beanspruchen darf. Mit dem taktisch wichtigen Ziel, die Autorität der Bischöfe von Rom zu erschüttern, bestreitet Marsilius in einer prominenten Passage des »Defensor pacis« (II, 16), dass Petrus, von dem die römischen Bischöfe und Päpste ihre Autorität ableiten, als Märtyrer in Rom gestorben noch überhaupt je in Rom gewesen sei. Zwar soll auch nach Marsilius einer der Bischöfe das Haupt der Kirche sein, aber welcher dies sein soll und welche Befugnisse dieser haben darf, haben das Generalkonzil oder der Kaiser zu bestimmen. Marsilius selbst rät – wegen der Gewohnheit – zu Rom als Sitz eines ganz und gar veränderten Papstamts (II, 22).
Das Buch enthält neben einem Quellen- und (kurzen) Literaturverzeichnis auch eine nützliche Chronologie sowie einen Namens- und Sachindex.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Frank Godthardt, Rezension von/compte rendu de: Unn Falkeid, The Avignon Papacy Contested. An Intellectual History from Dante to Catherine of Siena, Cambridge, MA, London (Harvard University Press) 2017, 288 p. (I Tatti Studies in Italian Renaissance History), ISBN 978-0-674-97184-4, USD 49,95., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57373