Die von Lucie Galano (Universität Paul-Valéry Montpellier 3 und Universität Sherbrooke)1 und Lucie Laumonier (Universität Calgary) herausgegebene Aufsatzsammlung zum mittelalterlichen Montpellier geht auf eine 2013 veranstaltete internationale Tagung zurück, die mit den Forschungen der beiden Autorinnen für ihre jeweiligen Dissertationen in Zusammenhang stand2. Sie ordnet sich damit in die Kooperation zwischen südfranzösischen und kanadischen Universitäten ein, die bereits zu einer Reihe von Dissertationen und anderen Publikationen geführt hat. Der Band verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Einerseits geht es darum, eine historiografische Bilanz der Untersuchungen zum mittelalterlichen Montpellier zu erarbeiten, auf der anderen Seite aber auch darum, neue Forschungsansätze und Vertiefungsmöglichkeiten zu präsentieren.
In ihrer Einleitung präsentieren die beiden Herausgeberinnen zunächst eine Bilanz der Forschungsergebnisse und -tendenzen zur Geschichte Montpelliers. Am Ende des Bandes steht ihre Abschlussbilanz. Davon abgesehen, gliedert sich das Buch in drei thematische Sektionen mit insgesamt vierzehn Aufsätzen. Im Zentrum stehen vor allem das 13. bis 15. Jahrhundert. Die erste Sektion ist der über einen langen Zeitraum recht komplizierten politischen Situation Montpelliers, seinen unterschiedlichen Stadtherren und seinem consulat gewidmet. Der Beitrag von Pierre-Joan Bernard charakterisiert den Überlieferungszustand seigneurialer Archive und die Geschichte dieser Bestände. Nach ihrer Gründung am Ende des 10. Jahrhundert erlebte die Stadt ab dem 12. Jahrhundert einen enormen Aufschwung.
In ihrer frühen Phase (989–1204) spielte vor allem die Familie der Guilhem eine entscheidende Rolle. Danach, ab 1204, wurde Montpellier durch die Heirat von Marie de Montpellier mit König Pierre II von Aragón in dessen Herrschaftsbereich eingegliedert. Nach 1204/1205 gab es ein consulat. Seit Jacques Ier von Aragón seinem jüngeren Sohn Jacques II einen heterogenen territorialen Komplex vererbt hatte, der als Königreich von Mallorca bezeichnet wurde, gehörte Montpellier von 1279 bis 1349 zu diesem Königreich. 1349 ging es in die Verwaltung des französischen Königs über. Dabei blieben allerdings bisherige seigneuriale Institutionen wie die cour du palais und die cour du baile bestehen (S. 8). In den folgenden Jahrhunderten kam es immer wieder zu Verlagerungen und Umzügen der Archivbestände. Sie wurden auf verschiedene Orte verstreut. 1793 wurde der größte Teil der noch in Montpellier selbst aufbewahrten Archivalien systematisch vernichtet.
Lucie Galano beschäftigt sich, auch unter dem Gesichtspunkt der territorialen Expansion, mit der Beziehung Montpelliers zu seinem Um- und Hinterland, dem Umgang mit natürlichen Ressourcen (Weiden, Wald/Holz, Metallvorkommen, Wasser usw.) und der Umweltgeschichte (z. B. Umleitung von Wasserläufen und deren Folgen). Françoise Durand-Dol geht auf die lokalen Widerstände gegenüber religiösen Neugründungen in Montpellier, wie dem Hospitalorden vom Heiligen Geist, ein (Mitte 12.–Mitte 13. Jh.). Montpellier war kein Bischofssitz, sondern gehörte zum Bistum Maguelone. Dessen Bischöfe lehnten die Neugründungen ab und bemühten sich, deren geistliche Aktivitäten zu beschränken. Von den Päpsten wurden sie jedoch gefördert.
Leah Otis-Cour beschreibt die Entwicklung der Strafjustiz in Montpellier (12.–13. Jh.). Da keine städtischen Gerichtsregister vorliegen, stützt sie sich auf normative Quellen, wie die coutume von 1204 (die Bestimmungen von 1190 aufnahm). Sie betont mehrfach die Unterschiede zwischen Montpellier und anderen südfranzösischen Städten wie Toulouse und sieht die Milderung von Strafen für Ehebruch oder Beleidigungen als charakteristisch an. Pierre Chastang wendet sich dem Thema der Ausrufer und ihrer Veröffentlichungen bzw. der Bedeutung akustischer Phänomene zu. Besonders interessant sind hier die spezifischen Praktiken der consuls de mer. Sie agierten von Booten aus, mit eigens mitgeführten Zeugen und mit Hilfe von Musikern, da ihre Veröffentlichungen in besonders dünn besiedeltem Gebiet erfolgten. Die komplizierte Rechtsprechungssituation in Montpellier erforderte oft mehrfache Veröffentlichungen in von unterschiedlichen Herren kontrollierten Bezirken. Geneviève Dumas greift das Thema ihrer Monografie zum Gesundheitswesen in Montpellier auf. Bei Krankheiten wie der Pest und insbesondere bei der Lepra (die eine aufwändigere Diagnostik erforderte, die Expertenwissen voraussetzte) kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen consuls und Universität. In größerem Umfang sei dies jedoch erst Ende des 15. Jahrhunderts der Fall gewesen.
Die Beiträge der zweiten Sektion beziehen sich auf den Raum der Stadt als solchen, seine Nutzung und auf architektonische Aspekte. Der sehr interessante Beitrag von Kathryn Reyerson geht auf wirtschaftliche Netzwerke von Frauen im 13. und 14. Jahrhundert ein. Ausgangspunkt sind Auseinandersetzungen zwischen den consuls und der Familie der Boni Amici um den Besitz und das Verfügungsrecht über die Place de l’Herberie. Dabei kam es zu einer Untersuchung mit ausgedehnter Befragung von Zeuginnen, die dort, manchmal seit Jahrzehnten, Markstände betrieben. Ihre Aussagen zeigen auch die Beteiligung von Frauen aus der städtischen Elite an der Verwaltung und der Vermietung des Immobilienbesitzes ihrer Familie.
Die beiden Aufsätze von Bernard Sournia zur Wohnkultur des Patriziats um 1300 und von Jean-Louis Vayssettes zu den seit einer Publikation von 1991 neu hinzugekommenen archäologischen Erkenntnissen zu Häusern des 13. und 14. Jahrhunderts (in deren äußerem Erscheinungsbild spätere Umbauten die mittelalterlichen Elemente lange Zeit völlig verdeckten), stellen eine äußerst wichtige Ergänzung dar. Sie zeigen die erhebliche Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit von Historikern und Archäologen. Lucie Laumonier ergänzt ihre Forschungen zu Haushalten, Familienstrukturen und Verwandtschaftsbeziehungen (Mitte 13.–Ende 15. Jh.) und fasst die Ergebnisse ihrer Monografie zusammen.
Die dritte Sektion untersucht die Bedeutung Montpelliers als Handelsstadt und intellektuelles Zentrum, als Ort, an dem eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Einflüsse aufeinandertraf. Maïté Ferret-Lesné geht auf das Verhältnis von römischem Recht und coutumes ein. Sie präsentiert Kaufmanns- und Handelsrecht und geht auch auf die Niederlassungsbedingungen für Stadtfremde und auf Bestimmungen zum Schutz des einheimischen Gewerbes ein. Romain Fauconnier vertritt die Ansicht, die Geschichte der Mathematik sei bisher zu isoliert betrieben worden. Er präsentiert mathematische Traktate und deren Bezüge zur kaufmännischen Praxis, die Rolle italienischer und jüdischer Einflüsse (italienische Abacus-Schulen, Übersetzungen, Bedeutung örtlicher kommunaler Schulen).
Danièle Iancu-Agou setzt sich mit Einflüssen und dem Wirken jüdischer Gelehrter und deren Übersetzungstätigkeit, mit innerjüdischen Kontroversen und den Folgen der Vertreibung jüdischer Gemeinden auseinander und gibt biografische Kurznotizen zu einzelnen Gelehrten. Daniel Le Blévec beschreibt die besonders intensiven Beziehungen Papst Urbans V. zu Montpellier, die sich in zahlreichen Privilegien und in Projekten wie Kollegiengründungen des Papstes und seines Bruders niederschlugen. Von den in der Schlussbilanz hervorgehobenen neuen Ansätzen und Chancen sind besonders die von mehreren Autoren bereits praktizierte oder eingeforderte Heranziehung auswärtiger Quellen (z. B. aus am gemeinsamen Handel beteiligten Partnerstädten, mit denen teilweise sogar besondere Abkommen geschlossen wurden, aus den Archiven des Vatikans und anderer auswärtiger Bestände) und die Vertiefung der Untersuchung der Beziehungen zu Um- und Hinterland erwähnenswert.
Das selbstgesetzte Ziel, bisherige Ergebnisse der Historiografie zu Montpellier zu bilanzieren und über künftige Fortsetzungsmöglichkeiten nachzudenken, hat der Band sehr gut umgesetzt. Er bietet anhand der Geschichte dieser Stadt der interessierten Leserschaft einen aktuellen, bestens fundierten Einstieg in verschiedenste Themenfelder. Eine stärkere Ausweitung vergleichender Einordnungen und Kontextualisierungen dieses besonderen Falles (z. B. im Vergleich zu anderen Gebieten der Krone Aragón und zu Frankreich/Italien/nordeuropäischen Verhältnissen) wäre reizvoll und wünschenswert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Lucie Galano, Lucie Laumonier (dir.), Montpellier au Moyen Âge. Bilan et approches nouvelles, Turnhout (Brepols) 2017, 258 p., 19 pl. en coul. (Studies in European Urban History [1100–1800], 40), ISBN 978-2-503-56852-2, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57375