Hans Hummer hat sich ein anspruchsvolles Ziel gesteckt: eine Revolution der mediävistischen Verwandtschaftsforschung. Diesen Anspruch löst er zu einem guten Teil ein, wenn seine Thesen auch kräftigen Widerspruch provozieren dürften. Über die konkrete, ohnehin schon fordernde Zielsetzung hinaus versteht Hummer seine Arbeit offenbar auch als grundlegende Kritik der aktuellen theoretischen Ausrichtung des Fachs, die er als "hyper-nominalism" bezeichnet und der er einen alternativen Ansatz klassisch sozialgeschichtlicher Fragestellung entgegensetzen möchte (S. 100). Den Gegenstand für dieses Vorhaben bilden Vorstellungen von Verwandtschaft zwischen 400–1200 auf dem Gebiet des fränkischen Reiches.
Hummers Ausgangspunkt bildet die These, dass Mediävisten ein theoretisch überholtes Konzept von Verwandtschaft verwenden, nämlich strukturfunktionalistische soziologische Theoriebildungen (S. 5f., 32, 66). Diese Theorien hat die sozio-ethnologische Forschung seit den 1980er Jahren kritisiert. Hummer beruft sich hier besonders auf den amerikanischen Kulturwissenschaftler David Schneider († 1995) (S. 101). Nach dessen Arbeiten ist Verwandtschaft als kulturelles Produkt zu verstehen. Damit sei Verwandtschaft nicht nur in dem Sinne konstruiert, dass sie Menschen umfassen kann, die biologisch gar nicht verwandt sind, sondern viel weitergehender: Schon die Vorstellung, Verwandtschaft sei biologisch definiert, stelle eine kulturspezifisch westliche Annahme dar. Andere Kulturen hätten völlig andere Vorstellungen davon, was Verwandtschaft ist (S. 4, 101).
Über diesen Befund erklärt Hummer ein grundlegendes Problem der mediävistischen Verwandtschaftsforschung: die Schwierigkeit, biologisch-verwandtschaftliche Bindungen in Quellentexten aufzuspüren. Ganz offenbar, so eine zentrale Beobachtung des Buches, schrieben mittelalterliche Autoren sehr wenig über das, was Historiker unter Verwandtschaft verstehen (S. 1–3). Genau das ist nach Hummer der entscheidende Punkt: Das Interesse moderner Historiker an biologischer Verwandtschaft sei ein gegenwartsgebundenes, das auf der Vorstellung beruhe, solche Verbindungen würden ein primordiales Prinzip menschlicher Organisation darstellen, eine anthropologische Konstante.
Das Mittelalter als dem modernen Historiker bzw. der modernen Historikerin fremde Kultur habe jedoch auch diesen völlig fremde Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelt. Pointiert lautet die zentrale Ableitung, die Hummer hieraus formuliert: Verwandtschaft hat es im Mittelalter nicht gegeben (S. 3) – nicht im modernen, biogenetischen Sinne jedenfalls. Sie sei im Mittelalter vielmehr in einem christlichen Rahmen gedacht und definiert worden. Formen geistlicher Verwandtschaft, die Historiker bislang meist als sekundäre, »unechte« Form der Verwandtschaft behandelten, wären damit als eigentliche Essenz mittelalterlicher Verwandtschaft zu verstehen (S. 109).
Von dieser Fehlerdiagnose ausgehend baut Hummer seine Arbeit in einem Dreischritt auf, der auf die Herausarbeitung der ontologischen Grundlagen mittelalterlicher Verwandtschaft zielt (S. 98–100): Zunächst analysiert er die Formierung des westlich-biogenetischen, das heißt seines eigenen Konzepts von Verwandtschaft und der historischen Verwandtschaftsforschung seit etwa den 1860er Jahren. Im zweiten Abschnitt konfrontiert Hummer dieses Konzept mit der sozio-ethnologischen Kritik und stellt ihm die antike Konzeption von Verwandtschaft als Grundlage mittelalterlicher Vorstellungen gegenüber (S. 97–136). Den methodisch-theoretischen Ansatz zur Auflösung der Konfrontation bildet eine Kombination der Ansätze Karl Schmids († 1993) und David Schneiders. Von Schmid übernimmt Hummer die Fragerichtung nach dem Selbstverständnis mittelalterlicher Eliten, Schneider bietet den Rahmen für eine theoretische Modernisierung.
Mit diesem Rüstzeug versehen, arbeitet Hummer im dritten und umfangreichsten Teil der Arbeit Vorstellungen von Verwandtschaft zwischen dem späten 5. Jahrhundert (Sidonius Apollinaris, † nach 479) und dem frühen 12. Jahrhundert (Lambert von Saint-Omer, † 1121) heraus. Chronologisch fortschreitend untersucht Hummer zu jedem Jahrhundert Texte, die Historikern seit jeher als Schlüsselquellen gelten oder die in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert wurden. Die Untersuchung spannt sich von den Briefsammlungen bischöflich-aristokratischer Eliten der frühen Merowingerzeit über die Arbeiten Gregors von Tour († nach 593), Heiligenviten des 7. Jahrhunderts (etwa Eligius von Noyon, † 660), den »Liber manualis« Dhuodas († nach 843) und die »Historien« Nithards († 844) bis hin zu den Urkundenbüchern des 9. Jahrhunderts (Freising, Weißenburg, Fulda).
Der Übergang der Arbeit zum hohen Mittelalter stellt einen gewissen Bruch dar (S. 265), denn nun untersucht Hummer nicht mehr einzelne Schlüsseltexte, sondern erarbeitet einen weitgefassten mentalitätsgeschichtlichen Überblick. Auch vom Umfang her ist der Teil zum 10.–12. Jahrhundert deutlich knapper gefasst als jener zum 4.–9. Jahrhundert (58 Seiten gegenüber 167). Ausgehend von der Bibel stellt Hummer hier den Begriff der Genealogie als zentrales Gliederungselement hochmittelalterlichen Geschichtsbewusstseins heraus, dessen Anfänge er in den kurz nach 800 entstandenen »Genealogiae Karolorum« zu fassen sieht, der ersten Herrschergeneaologie des Mittelalters. Den Kulminationspunkt des genealogischen Entwurfs mittelalterlichen Geschichtsbewusstseins und den Abschluss der Quellenanalyse bildet der »Liber floridus« des Lambert von Saint-Omer (1121).
Insgesamt ist Hummer eine ambitionierte Monografie gelungen, die ihr weitgestecktes Forschungsprogramm in vieler Hinsicht überzeugend umsetzt. Ein Neuentwurf der mediävistischen Verwandtschaftsforschung, die Einführung eines alternativen theoretischen Entwurfs mittelalterlicher Geschichte und eine methodisch-theoretische Grundsatzkritik des Faches ist jedoch möglicherweise etwas zu viel für ein einziges Buch. Zudem ist die Kritik Hummers an den Fachkollegen teilweise etwas unangenehm zu lesen. Sie erweckt den Eindruck persönlicher Angriffe, selbst wenn Hummer bemüht ist, auch Anerkennung auszusprechen (S. 85–90).
Die enorme Spannweite der Arbeit ist Schwäche und Stärke zugleich: So stellt der erste Abschnitt, die Sezierung der historischen Verwandtschaftsforschung, mit den Brüdern Grimm als Ausgangspunkt praktisch eine Analyse der Geschichte der Geschichtswissenschaft dar, die fundiert, allerdings chronologisch oft unübersichtlich und überkomplex ist. In ähnlicher Weise beginnt der zweite Abschnitt zur Geschichtsschreibung bei Herodot und auch der dritte Abschnitt springt mit dem Begriff der Genealogie zurück zu den Kirchenvätern.
Dieser enorme Umfang wäre für die Leserin bzw. den Leser mittels einer deutlicheren Führung durch den Autor leichter zu bewältigen gewesen. Gleichzeitig kann wohl jede Historikerin und jeder Historiker aus Hummers Monografie lernen. Besonders der eindringliche Apell, die Ontologie der zeitgenössischen Terminologie zum Ausgangspunkt für Analysekategorien zu machen und damit die Sicht der Zeitgenossen ernst zu nehmen, wirkt überzeugend. In diesem Sinne löst die Arbeit ihr Versprechen ein, ein neues Konzept des Verwandtseins im Mittelalter zu entwickeln: spirituelle Bindung als Paradigma mittelalterlicher Vorstellung von Verwandtschaft. Man darf gespannt sein, welchen Widerhall diese These hervorrufen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christoph Haack, Rezension von/compte rendu de: TITEL, in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57385