Unter den wenigen erhaltenen Quellen des Kanonikerstiftes Saint-Émilion (dép. Gironde) aus dem 12. und 13. Jahrhundert sticht ein Kapitelsbuch der Gemeinschaft (Augustiner-Chorherren seit 1110) hervor: die jetzt in den Archives départementales de la Gironde aufbewahrte Handschrift G 902. Jean-Loup Lemaitre, der bereits 1980 in seinem »Répertoire des documents nécrologiques français« (Nr. 2875) eine ausführliche Beschreibung des Manuskriptes geliefert hatte und zuletzt 2011 die Bedeutung des Kodex als Kapitelsbuch betonte1, publiziert hier zusammen mit Françoise Lainé, nach der gemeinsamen Edition des Necrologs von Saint-André de Bordeaux, eine weitere bedeutende Memorialquelle aus dem Erzbistum Bordeaux. Als dritter Mitarbeiter zeichnet Frédéric Boutoulle verantwortlich für eine allgemeine Einleitung zur Geschichte der Stadt (S. 11–18) und, zusammen mit Françoise Lainé, für einen historischen Abriss zur Gemeinschaft von Saint-Émilion (S. 19–48).

Die Handschrift enthält die wichtigsten Teile eines Kapitelsbuches, nämlich ein Martyrolog mit zahlreichen necrologischen Notizen an den Rändern und in den Zwischenräumen des Heiligenkalenders; außerdem die (Augustiner-)Regel sowie Vermerke über Verbrüderungen und Hilfsmittel der Liturgie wie eine Professformel, Neumen zum Totenofficium und das Mandatum pauperum. Zusätzlich finden sich Texte, welche die Identität der Gemeinschaft betreffen wie eine Vita des Patrons, Papsturkunden, Predigten oder die Kanones der Aachener Synode von 816. Der Titel der Publikation ist allerdings irreführend, denn es wird nicht das Kapitelsbuch als Ganzes ediert, sondern eigentlich nur die necrologischen Einträge, die dem Martyrolog nach dessen Fertigstellung hinzugefügt worden sind; das Martyrolog selbst wird in einer stark verkürzten, systematisierten Form präsentiert.

Die einzelnen Kapitel des Bandes zeigen die Schwerpunkte der Untersuchung: »Le manuscrit«, S. 65–77; »Analyse paléographique«, S. 79–203; »Édition« (der necrologischen Notizen), S. 205–306; »Confraternités«, S. 307; »Devenir chanoine à Saint-Émilion« (Professformel), S. 311; »La place de la liturgie des défunts« (Consuetudines-Auszug), S. 313; »Liste des bourgeois de Fronsac et de Saint-Émilion« (Zeugenliste einer Urkunde von 1241), S. 313; »Le martyrologe de Saint-Émilion (nur lokale Ergänzungen zum herkömmlichen Beda-Martyrolog), S. 317–352.

Der eigentlichen Edition vorangestellt sind zwei gewichtige Kapitel unter dem einfachen Titel »Annexe«. Sie enthalten chronologische Angaben, die den historischen Hintergrund der Handschrift beleuchten, wie etwa die Beziehungen Saint-Émilions zu anderen, benachbarten Kanonikerstiften, eine Karte der Verbrüderungen (S. 63) sowie die Listen der Äbte und Prioren. Die Handschrift ist in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Saint-Émilion entstanden, also direkt nach der Umwandlung einer schon länger am Grab des hl. Émilion bestehenden Gemeinschaft in ein Kanonikerstift (um 1110). Die necrologischen Einträge beginnen in dieser Zeit, die Todesnotizen reichen bis ca. 1280.

Die Edition zählt rund 1300 necrologische Einträge, setzt dann aber auch die außerhalb des Martyrologs im gleichen Kodex überlieferten Verbrüderungsverträge, Professformeln und Memorialvorschriften mit fortlaufender Zählung hinzu (bis Nr. 1327). Dankenswerterweise ist dem Band ein qualitativ hervorragendes Faksimile beigefügt (S. 400–499; fol. 7r–55r, 83v–84r). Auch die Archives départementales de la Gironde präsentieren auf ihrer Webseite einen vollständigen Scan der Handschrift. Trotz dieser bildlichen Verfügbarkeit zeigt die Edition eine stupende Sorgfalt bei der Beschreibung der handschriftlichen Überlieferung mit den auf eng begrenztem Platz marginal oder interlinear nur schwierig auf einen Tag zu beziehenden Notizen. Neben möglichen Identifizierungen der Verstorbenen wird außerdem der Versuch gemacht, die Einträge bestimmten Händen zuzuweisen (vgl. Abschnitt »Analyse paléographique«).

Schwerpunkt bildet naturgemäß die Memoria der Kanoniker aus Saint-Émilion selbst, eingetragen zumeist als canonicus et laicus, canonicus regularis oder canonicus et sacerdos (insgesamt ca. 600). Dazu tritt eine beachtliche Zahl von Frauen, als soror nostra bezeichnet (ca. 280). Der größte Teil fremder Kanoniker, derer man gedenken wollte, kommt aus den Gemeinschaften von Saint-Romain de Blaye (dép. Gironde) und Saint-Vincent de Bourg (dp. Gironde). Selten werden Laien kommemoriert, sei es aus der familia des Stiftes, sei es aus der Verwandtschaft der Kanoniker.

Aus dem Martyrolog werden nur die lokalen Nachträge und die datierbaren (!) Heiligen ediert; die anderen Elogen der Heiligenfeste werden verkürzt durch Ziffern dargestellt, die auf ihre Position in der Beda-Tradition verweisen. Die Zusätze sind außerdem in einer knappen Liste zusammengestellt; damit wird die schon 1920 von Antoine Chauliac in einem Beitrag der »Revue Mabillon« (fehlt im Literaturverzeichnis) präsentierte Liste der lokalen Heiligenvermerke wieder aufgenommen und ergänzt (S. 318f.). Veränderungen des Martyrologs gegenüber seiner Vorlage werden aufgrund paläografischer Vergleiche bestimmten Entstehungsschichten zugewiesen (S. 345–352). Das Martyrolog selbst fußt, wie die hier wieder aufgenommenen Untersuchungen von Lemaitre und Dolbeau zeigen, auf einer im Lyonnais um 1110/1120 entstandenen Vorlage (S. 321).

Als herausragende Leistung sind die Untersuchungen des Kapitels »Analyse paléographique« hervorzuheben, welche die 1300 necrologischen Notizen zu datieren versuchen aufgrund anderer, von gleichen Händen mit Todesjahr vermerkter Verstorbenen. Die Analyse dieser Einträge beschreibt durch Charakterisierung einzelner Schrifttypen und -merkmale datierbare Hände, um so auch die nicht datierten Einträge einem festen Zeithorizont zuzuweisen; auf die entsprechenden Einträge gleicher Hände wird jeweils mit Siglen verwiesen. Zahlreiche kleine Schriftausschnitte illustrieren die Ähnlichkeiten der Handschriften. Da es keine zum Vergleich heranzuziehende Schriftüberlieferung dieser Epoche aus Saint-Émilion gibt, bleiben diese Ergebnisse isoliert. Trotzdem wird der Versuch gemacht, in vielen grafischen Darstellungen ein Zeitraster für die einzelnen Schreiberhände zu konstruieren (S. 195–199). Die Einträge lassen sich so insgesamt in den Zeitraum von 1110 bis 1280 datieren. Drei ausgewählte Beispielseiten sollen zeigen, nach welchem Muster der knappe Platz zwischen dem martyrologischen Grundgerüst des Kodex zu verschiedenen Epochen mit necrologischen Einträgen gefüllt wurde (S. 200–202).

Ein Orts- und Personenregister (S. 355–391), ein hagiografischer Index (S. 393f.) und ein Sachindex (S. 395–397) ergänzen den Band.

Das Orts- und Personenregister scheint sich ‑ ohne dass dies präzisiert wird ‑ nur auf die necrologischen Einträge zu beziehen. Bei den Ortslemmata, die Gemeinschaften nennen, deren Mitglieder häufig verzeichnet sind (wie Saint-Émilion u. a.), wird zu Beginn die Anzahl der Belege summiert.

Die schon erwähnte Liste der nachgetragenen bzw. datierbaren Martyrologeinträge (S. 318f.) sollte wohl auch im hagiografischen Register abgebildet werden. Das ist nicht immer gelungen. Der Eintrag des hl. Frontasius wird in der Liste der Nachträge (S. 318) falsch dem 29.5. (statt 29.4.) zugewiesen; richtig S. 330. Hinter einer hl. Memoria mart. in Petragorica civitate (im Register, S. 393, falsch zum 23.5.) verbirgt sich die längere Eloge zu dem von Bischof Fronto bekehrten Märtyrer Memorius (zum 26.5.), f. 27v: Ipso die in Petragorica civitate natale beati Memorii martiris quem beatus Frontonius cum esset in Egypto Domino revelante repperit. Das Korrekturzeichen in der Hs. wurde falsch interpretiert (S. 332, zu a): Memorie wurde von einem Korrektor der Handschrift nicht zu Memoris korrigiert, sondern zu Memorii; falsch auch S. 318. Richtig wird er (mit Identifizierung) unter seinem französischen Namen »Mémoire« an anderen Stellen (S. 320, 331) vermerkt.

Im Sachregister vermisst man ein eigenes Lemma ad succurrendum (fehlt, z. B. Nr. 435, 1008, 1022). Einige Nachweise dazu kann man als Zusätze zu anderen Begriffen im Sachregister oder auch im Ortsregister finden. Auch der schöne Zusatz et nomina eorum scribantur in kalendario (Nr. 1324) hätte einen eigenen Eintrag im Register verdient.

Insgesamt aber zeigt die Edition ein hohes Maß an Qualität und Sorgfalt. Die einzelnen Interpretationsansätze bieten damit in einer quellenarmen Zeit eine gute Grundlage für weitere regionale Forschungen. Kenner der heutigen Bedeutung von Saint-Émilion werden allerdings mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass nur in drei Fällen die Einkünfte aus einem Weinberg (S. 397: vinea) zur Finanzierung einer Memoria herangezogen werden sollten.

1 Le »Livre du chapitre« de l'abbaye de chanoines réguliers de Saint-Émilion (XIIe-XIIIe siècles), in: Fabrique d'une ville médiévale: Saint-Émilion au Moyen Âge, hg. von Frédéric Boutoulle u. a., Bordeaux 2011, S. 139-152.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Françoise Lainé (éd.), Le livre du chapitre de Saint-Émilion. Avec la collaboration de Frédéric Boutoulle et Jean-Loup Lemaitre et le concours de la ville de Saint-Émilion, Paris (Académie des inscriptions et belles-lettres) 2017, X–508 p., ill. en n/b, 104 p. de pl. en coul. (Recueil des historiens de la France. Obituaires. Série in-8, 17), ISBN 978-2-87754-362-0, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57391