Mit »Stabilität« und »Kontinuität« sind die Kernbegriffe der Arbeit Eline Van Onackers bestimmt. Die Antwerpener Historikerin hat diese beiden Charakteristika für die vormoderne Gesellschaft der Kempen ausgemacht. Für Untersuchungszeit und -region, besonders unter der Perspektive ländlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, kann Van Onacker mittlerweile als Expertin gelten, publiziert sie hierzu doch kontinuierlich seit 2012. 2014 legte sie ihre Dissertation »Leaders of the pack? Village Elites and Social Structures in the Fifteenth- and Sixteenth-Century Campine Area« vor, die diesem Buch offensichtlich zugrunde liegt.
Ausgangsbeobachtung der Untersuchung stellt die relative Unveränderlichkeit der sozialen und ökonomischen Strukturen der Kempen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert dar. Die Region, heute gelegen im nördlichen Belgien und den südlichen Niederlanden, war damals geprägt von kleinen Landpächtern und -besitzern sowie Dorfgemeinden, die im Besitz elaborierter Selbstverwaltungskompetenzen waren. Van Onackers Ziel ist es, die sozialen Strukturen dieser Dorfgemeinden aufzudecken. Dadurch soll erklärt werden, wie diese Strukturen in einer von Staatenbildung, Kommerzialisierung und gesteigerter Ungleichheit geprägten Zeit die Stabilisierung der Verhältnisse gewährleisteten. Besonderes Augenmerkt liegt dabei auf der Dorfelite, die identifiziert und deren Rolle beschrieben werden soll. Den Fokus auf Kontinuität und nicht auf den Wandel zu legen, wie es vor allem die großen Narrative der Kommerzialisierung tun, wirkt dabei innovativ. Zudem sieht die Autorin Chancen, sich der »Geschichte als Laboratorium« (S. XXI)1 zu bedienen und Ideen für Problemkomplexe der Gegenwart zu gewinnen – ein erfrischend klares Statement, das dem Leser jedoch gleich zu Beginn eine stark durch unsere Zeit geprägte Perspektive anbietet.
Theoretische Grundlage und häufig wiederkehrende Referenzpunkte der Arbeit stellen die Forschungen Bas van Bavels und Erik Thoens dar, wobei besonders deren Bezug zur Neuen Institutionenökonomik zum Tragen kommt2. Bei der Definition des Elitenbegriffs grenzt sie sich von bisherigen Konzepten (v. a. »coqs du village«3, »yeoman«4, »horse farmers«5) weitestgehend ab und verweist auf den Facettenreichtum elitärer Distinktionsmerkmale. Ausnutzung der landwirtschaftlichen Flächen, Wohlstand, intermediäre Funktionen sowie die Rolle in sozio-politischen Organisationssystemen werden diesbezüglich in den Blick genommen. Van Onackers Untersuchung setzt auf dem Mesolevel an. Dörfer werden also jeweils als Gruppen betrachtet, da die vorhandenen Quellen für mikrohistorische Fallstudien kein ausreichendes Material bieten. Notwendige Grundannahme ist dabei die Strukturgleichheit der untersuchten Dörfer. In ihrer Arbeit stützt sie sich auf eine größere Bandbreite an Quellen: Steuer- und Rechnungsüberlieferungen werden ergänzt durch Gerichtsquellen, Pachtunterlagen, Gemeindestatuten, kirchliche Überlieferungen sowie solche der Armenfürsorge. Außen vor bleiben leider Quellen zu Kriminalität und Strafen – was insofern schade ist, als sich gerade in Konflikten Brüche oder zumindest Trennlinien der Gesellschaft offenbaren können.
Die auf den angenehm straffen Methodenteil folgende Untersuchung lässt sich in die drei Sektionen Ökonomie, Politik und Kultur einteilen, wobei letztere aufgrund der dünnen Quellenbasis deutlich kleiner ausfällt. In der ersten Sektion wird der durch Steuern und Herrschaftsstrukturen bedingte Handlungsrahmen der Bauern abgesteckt. Kern der Untersuchung ist die folgende Herausarbeitung der sozialen Stratifizierung und die Identifikation der Elite. Schließlich wird die Bedeutung der Allmendegüter und der Märkte für Güter, Land, Arbeit und Kredit beleuchtet. Abschließend wird ein Seitenblick auf die tenant farmers als potenzielle »coqs du village« (Marc Bloch) geworfen. Die zweite, politische Sektion ist bereits bedeutend kürzer und legt den Fokus auf Dorfpolitik und Ämterverteilung, bevor in der letzten Sektion das Sozialleben der Dörfer rekonstruiert wird.
Im Ergebnis beschreibt Van Onacker eine Gesellschaft, die sowohl in finanzieller als auch politischer Hinsicht vergleichsweise viele Freiheiten genoss. Die Steuerlasten sind als moderat und nicht existenzgefährdend zu bezeichnen und die Ausstattung mit umfangreichen Verwaltungsrechten sowie das Fehlen starker regionaler und feudaler Strukturen führten zu einer »intensiven [Selbst]Regierung« (S. 229). Gleichzeitig fand sie sich von relativ geringer Ungleichheit geprägt – von der Autorin berechnete Gini-Koeffizienten bei Besteuerung und Landnutzung bewegen sich zwischen 0,5 und 0,6 (S. 281).
Dennoch macht die Autorin in der dörflichen Gesellschaft drei distinkte und hierarchisch abgestufte Bevölkerungsgruppen aus: Klein(st)bauern (extreme smallholders, 25–30%), Häusler (cottagers, 25–30%) und unabhängige Bauern (independend peasants, 25%) (S. 272). Letztere bildeten, aufbauend auf subsistenzsicherndem Landbesitz, die eigentliche dörfliche Elite, die sich durch gemischte Landnutzung, gesteigerte Marktaktivitäten und Kontrolle der politisch und sozial entscheidenden Institutionen auszeichnete. Da diese Gruppe jedoch mit bis zu 30% der Bevölkerung sehr groß war, spricht Van Onacker von einer »breiten Oligarchie« (S. 230). Diese Elite herrschte allerdings nicht, sondern war führend in einer »politischen Kultur« des Dorfes (S. 202), die von Dissens und Aushandlungsprozessen geprägt war – Abhängigkeitsbeziehungen oder Reichtumsakkumulation entstanden dabei nicht. Eben diese Aushandlungsprozesse zum Erreichen eines convivium, außerdem eine große Inklusivität bei der Nutzung der Allmendeflächen, eine effiziente Armenfürsorge, die allen Mitgliedern eine gesteigerte Sicherheit verschaffte, sowie ungleiche Steuerlasten, die Van Onacker stark interpretierend als »Umverteilungsmaßnahme« (S. 233) bezeichnet, trugen letztlich zur Sicherung des Systems bei.
Die Autorin verweist immer wieder auf kleinere und größere Quellenprobleme, so etwa in Bezug auf die Funktion des Arbeitsmarktes der Kempen (S. 163) oder der Nutzung der Allmendegüter (S. 81). Damit hat sie es mit einer für die vormoderne Wirtschaftsgeschichte üblichen Problemlage zu tun – der offene und entsprechend vorsichtige Umgang mit dem Material sowie das Hinzuziehen auch abseitigerer Quellen (z. B. ein Schadensregister der Kriegsfolgen in den 1570er und 1580er Jahre zur Rekonstruktion des Pferdebesitzes, S. 66) unterstützen jedoch die Ergebnisse. Insgesamt entstehen so eine umfassende Analyse und ein in sich stimmiges Bild. Die Kempen werden dabei gewissermaßen wiederholt zu einem Fallbeispiel für die verschiedensten Theorien und Problemstellungen.
Das Buch zeichnet sich durch eine intensive Leserführung aus. Jedes Kapitel wird gleichsam durch ein eigenes Abstract eingeleitet und durch eine Zusammenfassung beschlossen. Wenn jedoch sogar innerhalb der Kapitel längere Kurzzusammenfassungen gegeben werden (bspw. S. 279), stört dies teilweise den Lesefluss. Die eingangs betonte Rückbindung an aktuelle Problemstellungen geschieht leider nicht explizit. Zwischen den Zeilen kann man jedoch m. E. durchaus Sympathien der Autorin für die Dorfgesellschaften erkennen, die sie selbst durch breite Mitbestimmungsrechte und ihre Ausrichtung auf Stabilität anstelle von Wachstum charakterisiert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jan Siegemund, Rezension von/compte rendu de: Eline Van Onacker, Village Elites and Social Structures in the Late Medieval Campine Region, Turnhout (Brepols) 2017, XLI–320 p., 7 b/w ill., 4 maps, 57 graph., 68 b/w tab. (The Medieval Countryside, 17), ISBN 978-2-503-55459-4, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57414