Christiane Veyrard-Cosme gehört zu den profiliertesten Mittellateinern der jüngeren Generation, und die hier vorgestellte Veröffentlichung zeigt, dass Ihr Ruf nicht von ungefähr kommt. Um wirklich Neues an den Tag zu bringen, ist für Mediävisten das Handschriftenstudium immer noch ein sehr sicherer, wenn auch mühsamer Weg. Dies beweist diese Arbeit einmal mehr, die eine neue, kommentierte Edition der »Vita Alcuini« und ihre erste Übersetzung in eine moderne Sprache überhaupt bietet.
Alkuin (730–804) war Zeitgenosse und Vertrauter Karls des Großen, eine der herausragenden Gestalten der sogenannten »Karolingischen Renaissance« und engagierter Verteidiger des Heiligen- und Reliquienkultes. Etwa 20 Jahre nach seinem Tod wurde er selbst Protagonist einer Heiligenvita. Diese ist in zwei Handschriften überliefert – Reims, BM, 1395 und Troyes, BM, 1712 –, von denen erstere noch bis vor Kurzem als verloren galt und letztere eine größere Lücke aufweist. Insofern ist die hier vorgelegte Edition die erste komplette Ausgabe des Werks. Bereits dieser Befund zeigt, wie wenig Beachtung die Lebensbeschreibung in der Forschung bisher gefunden hat.
Die hier vorgelegte, vorbildliche Textanalyse macht es wahrscheinlich, dass die »Vita Alcuini« um 823 in Tours geschrieben wurde. Ohne Zweifel handelt es sich um einen hagiografischen Text und nicht um ein biografisches Werk, wie z. B. die zeitgenössische »Vita Karoli« Einhards. Der anonyme Autor erklärt so im Prolog, dass seine Arbeit den Seelen vieler nutzen soll. Auch findet man, eingebettet in ein biografisches Grundgerüst, diverse Topoi und Charakteristika mittelalterlicher Heiligenviten wie die von Kindheit an offensichtliche Prädestination des Protagonisten zum künftigen exemplarischen Leben, die Tugenden und Werte, die er verkörperte und die im Laufe seines Lebens immer deutlicher hervortraten – hier vor allem Demut, Gehorsam, Nächstenliebe, Milde und Beständigkeit –, mehrere Wunder ante und post mortem, Visionen und schließlich seine Todesbeschreibung mit dem Einzug ins Paradies.
Verstärkt durch intertextuelle Bezüge zu grundlegenden Modellen der mittelalterlichen Hagiografie, der »Vita Martini« des Sulpicius Severus und den »Dialogen Gregors« des Großen, erhält die Alkuin-Vita einen normativen und letztlich auch politischen Charakter: Sie stellt ein Modell für die Menschen der Gesellschaft dar, welche die Karolinger errichten wollten. Die zugrunde liegenden monastischen Ideale spielen hierbei eine besondere Rolle, genau wie das von Ludwig dem Frommen gezeichnete Bild eines demütigen Kaisers, für den Buße der allein richtige Weg der Vervollkommnung war. Dass Hinkmar von Reims nicht nur zu den Parteigängern Ludwigs gehörte, sondern auch, zusammen mit Hraban Maur, die Heiligkeit Alkuins verteidigt hat, ist kein Zufall. Der große Reimser Bischof mag in irgendeiner Weise hinter dem Vitenprojet gestanden haben und wohl auch hinter der Abschrift der Reimser Handschrift, wie Veyrard-Cosme ebenfalls glaubhaft macht.
In der Tat gehören zu ihren nicht geringsten Verdiensten die detaillierten Beschreibungen und Analysen der beiden Handschriften, soweit sie lateinische Texte betreffen. Das Reimser Exemplar aus dem 9. Jahrhundert könnte demnach direkt auf Hinkmar zurückgehen. Der Codex ist vor allem Märtyrern gewidmet, und seine Bedeutung wurde erst kürzlich in Bezug auf die Passionen der Heiligen Margarita und Marina herausgestellt1. Die Handschrift aus Troyes aus dem 12./13. Jahrhundert ist eine aufgrund ihrer Bedeutung für die altfranzösische Literatur gut bekannte Sammelhandschrift, deren Teil, der die lateinischen Heiligenviten umfasst, aus Tours stammen dürfte.
Die geringe Zahl an mittelalterlichen Abschriften ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Vita Alkuins nur geringe Verbreitung fand, genauso wie sein Kult. Trotzdem sollte man ihren Einfluss nicht unterschätzen: Wenn Leute wie Hinkmar hinter der Arbeit steckten oder Interesse für sie zeigten, ist wahrscheinlich, dass man in den hohen Sphären der Gesellschaft Kenntnis von ihr hatte. Zudem zeigt Veyrard-Cosme, dass die Vita in der insularen und cluniazensischen Textproduktion ein Echo fand, besonders in der Lebensbeschreibung Alfreds des Großen durch Asser und der Vita des Abtes Majolus von Cluny.
Was den editorischen Teil des hier besprochenen Buches betrifft, enthält er nicht nur die Vita Alkuins, sondern auch eine lateinische Ausgabe und Übersetzung von Alkuins Epitaph sowie die Übersetzung seines Briefs Nr. 250, den er an die Fuldaer Mönche geschrieben hat. Die Editionen und ihre Übertragung ins Französische sind mit jener Präzision und Eleganz durchgeführt, mit der sich Veyrard-Cosme bereits bei früheren Arbeiten ausgezeichnet hat. Erwähnen wir zum Schluss noch den Fundstellenindex und das Personen- und Autorenregister, die weitere Studien zu Alkuins Vita erheblich erleichtern werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Krönert, Rezension von/compte rendu de: Christiane Veyrard-Cosme, La Vita beati Alcuini (IXe s.). Les inflexions d’un discours de sainteté. Introduction, édition et traduction annotée du texte d’après Reims, BM 1395 (K 784), Turnhout (Brepols) 2017, 361 p., 3 ill. en n/b, 1 ill. en coul. (Collection des Études augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps modernes, 54), ISBN 978-2-85121-287-0, EUR 52,00., in: Francia-Recensio 2018/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57448