Wer sich bis in die jüngste Zeit mit französischen Publikationen zum Heiligen Römischen Reich in der Neuzeit beschäftigt hat, konnte sich kaum des Eindrucks erwehren, dass sich gerade die französische Historiografie schwertut mit einer Einordnung oder Darstellung dieses politischen und sozialen Gebildes, das die französische Geschichte immerhin über mehrere Jahrhunderte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit begleitet hat. Die Fixierung auf das Souveränitätstheorem und entsprechend auf moderne Staatsbildung, für die das »Alte« Reich schließlich nicht einmal mehr als Negativfolie tauglich gewesen ist, lässt sich bis auf Bodin zurückführen.

Die grundlegende Neubewertung des Alten Reiches in der Geschichtsforschung der Bundesrepublik nach 1970, die Analyse des Reiches als eines politisch-sozialen Systems, seine föderative Struktur bei fortbestehender Lehensordnung, die Rolle von Kaiser und Kaiserhof, eine Neubewertung der Reichsjustiz, von Reichstag und Reichskreisen, schließlich die kulturhistorische Akzentuierung von Zeremoniell und politischen Ritualen als zeitgenössischem Deutungshorizont – all dies hat in der französischen Forschung lange keine große Resonanz gefunden. Bei Überblicksdarstellungen überwog der Eindruck, dass man jenseits des Rheines froh war, wenn man nach 1648 Ansätze für Souveränitätsdenken bei den Reichsständen fand oder sich an Reichsinstitutionen entlanghangeln konnte, um eine konsistente Reichsgeschichte erzählen zu können.

Aber richtig wohl hat man sich erst bei der Genese Brandenburg-Preußens als eines modernen Staatswesens gefühlt, das das Reich dann ablöste – womit eine borrussische Sichtweise sehr viel länger tradiert wurde als in der deutschen Forschung. Der dezente Hinweis, dass eine Orientierung an Brandenburg-Preußen für eine Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und damit für eine deutsche Geschichte der Frühen Neuzeit wenig beiträgt, findet sich auf S. 12: Um 1600 hätten die Einnahmen Brandenburg-Preußens nur ein Fünftel derjenigen des Herzogtums Bayern betragen – und entsprechend gering sei auch die Rolle des Kurfürsten von Brandenburg im Reich zu veranschlagen.

Es bedarf allerdings keiner dezenten Hinweise, um festzustellen, dass es den beiden Autorinnen Claire Gantet und Christine Lebeau in hohem Maße gelungen ist, eine moderne Gesamtdarstellung der Geschichte des Reiches vorzulegen, die auf der Höhe der meist deutschen Forschung zum Thema argumentiert. Beide Autorinnen sind als eminente Kennerinnen der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte ausgewiesen, und sie stellen diese Expertise in der vorliegenden Überblicksdarstellung überzeugend unter Beweis. Das Buch ist übersichtlich konzipiert, weil schon das vorgegebene Format einer Einführungsdarstellung es nicht erlaubt, die Geschichte des Reiches in Form einer zweibändigen ausufernden Nacherzählung zu präsentieren. Die Autorinnen geben aber auch nicht der Neigung nach, die Komplexität der Strukturen des Alten Reiches zu reduzieren, beispielsweise zugunsten einer irgendwie gearteten Teleologie. Das Reich wird deshalb nicht nur in Form einer institutionenbasierten Verfassungsgeschichte präsentiert, sondern darüber hinaus als Träger und Ort einer politischen, rechtlichen, religiösen und intellektuellen Kultur. Dies in eine konsistente Form zu bringen ist eine Herausforderung für jede Darstellung, und diese Herausforderung ist im vorliegenden Werk bewältigt worden.

Um der Gefahr anachronistischer Interpretationen vorzubeugen, wird der mittelalterliche Bezugsrahmen des Reiches deutlich markiert: Die lehensrechtlichen Grundlagen, die Ideologie einer Translatio Imperii, die diffusen Außengrenzen. Zu Recht wird für die Dynamik der Wandlungsprozesse um 1500 auf Peter Moraws Theorem der »Verdichtung« des Reiches zurückgegriffen – eine soziale und politische Dynamik, die dann auch den cantus firmus der Darstellung der Reformationsgeschichte bildet. Der Versuch, die Konfessionsspaltung mithilfe eines Religionsfriedens 1555 innerhalb des Reiches in den Griff zu bekommen, wird fair gewürdigt und nicht schon aus der Warte des späteren Scheiterns abgewertet.

Bei der Frage, wie sehr denn der Dreißigjährige Krieg ein Konfessionskrieg gewesen sei und wann er diesen Charakter verloren habe, wird den »armées aconfessionnelles« vergleichsweise großes Gewicht gegeben. Dass für die Söldner und deren Kommandeure die Konfession zumindest nicht vorrangige Motivation des Kriegsdienstes gewesen ist, relativiert das Argument des Konfessionskrieges – auch ohne dafür den Kriegseintritt Frankreichs in Anspruch nehmen zu müssen. Der Westfälische Frieden wird in seiner Polyvalenz als internationales Vertragswerk, als territoriale Regelung und Religionsfrieden präsentiert und seine restaurative Qualität betont. Immer noch in der internationalen Diskussion präsente Mythen wie die des angeblich neuen Bündnisrechts der Reichsstände werden elegant entsorgt (S. 76).

Auch die Bewertung der Folgen des Westfälischen Friedens folgt der jüngeren Reichsgeschichte, die nachgewiesen hat, dass dem Kaiser in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Rückkehr ins Reich und Aufwertung seiner Stellung gelang, indem er sich gleichsam zum Garanten der Reichsverfassung aufschwingen konnte. Vergleichsweise wenig Raum wird schließlich dem Aufstieg Brandenburg-Preußens und der Zäsur des Siebenjährigen Krieges gewidmet ‒ insgesamt nicht mehr, als der Rolle Reichsitaliens im System des Reiches. Auch dies erscheint im Gesamtkontext der Darstellung konsequent.

Die Zeit nach 1648 wird jedoch weniger über eine chronologische Darstellung als vielmehr eine Analyse der politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Reiches eingefangen. Dies erlaubt es den Autorinnen beispielsweise, die Landeshoheit der Territorien, aber auch die Rolle der Reichskreise oder der Mindermächtigen (Reichsritterschaft, Reichsstädte) zu illustrieren. Dass das Reich schließlich mehr gewesen ist als ein System von Verfassungsinstitutionen und Territorien, führt das 6. Kapitel abschließend vor: als eigenständiges Kommunikationssystem, getragen von der Reichspost und einem darauf fußenden weit entwickelten Pressewesen, als eigenständiger Kommunikationsraum von universitären und nichtuniversitären Wissenschaften und ihren Netzwerken. Kundige Ausführungen zur »Reichspublizistik« runden das Bild einer protestantisch geprägten Bildungsnation ab, die einen eigenen Beitrag zur europäischen Aufklärung geleistet hat.

So weit, so gut. Mit diesem Überblickswerk liegt eine französische Darstellung vor, die – aus meiner Sicht erstmals – den Ertrag der neueren Forschungen zum frühneuzeitlichen Reich für eine französische Leserschaft transferiert. Dies ist umso höher zu bewerten, als die französische Sprache es schwer macht, alle verfassungsgeschichtlichen Subtilitäten der Reichsgeschichte nachzuvollziehen. So kann sie etwa die für den Dualismus von Kaiser und Reich grundlegende verfassungsgeschichtliche Unterscheidung zwischen »kaiserlichen« und »Reichsinstitutionen« nicht wiedergeben, weil beides unter »impérial(e)« firmiert.

Es irritiert dann allerdings, dass die Darstellung in einem abschließenden Kapitel nicht 1806 mit dem Ende des Alten Reiches abschließt, sondern mit dem Wiener Kongress 1815. Dies kann man mit dem Argument, eigentlich sei das Ende des Alten Reiches dort erst besiegelt worden, weil es eben keine Restauration mehr gegeben habe, beglaubigen, aber dieses Kapitel verliert sich dann doch in einer sehr summarischen Nacherzählung der Umbrüche im Gefolge der Französischen Revolution, der der rote Faden abhanden kommt. Das Ende des Alten Reiches und die Folgen der Säkularisation und Mediatisierung geraten in einer allgemeinen deutschen Geschichte, die napoleonische Kontinentalblockade, Weimarer Klassik und Wiener Musikkultur nebeneinander stellt, aus dem Blick. Wenn der Deutsche Bund als »alternative sécularisée« des Heiligen Römischen Reiches präsentiert wird, so wäre es naheliegend gewesen, eine entsprechende Kontinuitätslinie auszuformulieren, die über eine föderative Nation in den deutschen Föderalismus nach 1945 führen würde – die in der deutschen Diskussion derzeit wohl einflussreichste Kontinuitätskonstruktion.

Stattdessen behält mit Heinrich August Winkler ein Historiker das letzte Wort, der den Mythos des Reiches im 19. und 20. Jahrhundert zum Thema gemacht hat, ohne dessen historische Realität auch nur ansatzweise in den Blick zu nehmen. Für diese Wahl mag der Blick auf ein französisches Publikum, für das eine solche Chimäre des Reiches auch im 21. Jahrhundert noch politisch instrumentalisierbar ist, eine Rolle gespielt haben. Es ist aber schade, dass damit die Mythisierung das letzte Wort behält in einem Buch, das sich so erfolgreich der Aufklärung über die Struktur und Geschichte des frühneuzeitlichen Reiches widmet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Horst Carl, Rezension von/compte rendu de: Claire Gantet, Christine Lebeau, Le Saint-Empire. 1500–1800, Paris (Armand Colin) 2018, 270 p. (Collection U. Histoire), ISBN 978-2-200-61763-9, EUR 18,99., in: Francia-Recensio 2018/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57460