In der politischen und gesellschaftlichen Debatte um das Wasser kommen den Auseinandersetzungen um langfristige Entwicklungslinien und die Bewältigung von Folgen menschlicher Eingriffe zentrale Funktionen zu. Die Fülle an neuen Ergebnissen und weiterführenden Anregungen dieses spannend geschriebenen und methodisch wie sachgeschichtlich hoch innovativen Buches kann hier allenfalls angedeutet werden. Am Beispiel des Oberrheins und seiner ökologisch sehr unterschiedlich strukturierten Nebenflüsse zeigt Christoph Bernhard über den Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten in detaillierten Analysen auf, wie vielfältig und dynamisch der Naturraum Rhein in seiner ständigen, bisweilen in Katastrophen erfolgenden Veränderung vernetzt ist: mit mentalen Dispositionen in den Bevölkerungen, mit technischen und analytischen Leistungen der Ingenieur- und Naturwissenschaften, mit institutionellen Neuerungen auf staatlicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene, mit innenpolitischen und transnationalen Auseinandersetzungen und wechselseitigen Einflüssen, mit Modernisierungsprozessen und Raumplanungskonzepten in den betroffenen Gesellschaften und mit sich wandelnden gesellschaftlichen Prioritäten.
Diesem Programm entspricht die Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen, deren Ergebnisse der Autor einbezieht. Wasser und Fluss werden als zentrale Impulsgeber für vielfältige Modernisierungsakteure und ihre Gegenkräfte in den Anrainerstaaten plastisch herausgearbeitet. Den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in ihrer oft widersprüchlichen langfristigen Entwicklung gilt ein besonderes Augenmerk.
Bernhardt geht in vier großen Schritten vor: von dem Kampf gegen das Wasser im frühen 19. Jahrhundert über die Verlandung 1840–1900 und den Kampf um das Wasser 1880–1930 zur »Rückkehr« zum Wasser in einer europäischen Umweltpolitik, die dessen Schutz ins Zentrum rückt. Die Rheinbegradigungen seit dem – in den komplexen Erinnerungs-Mythen dekonstruierten – monumentalen Werk des badischen Ingenieurs Johann Gottfried Tulla sind über Jahrzehnte das Leitmotiv der sich fundamental weiterentwickelnden harten Auseinandersetzungen auf zahlreichen Ebenen. Ihre Bedeutung für die innere Staatsbildung des Staates Baden wird beispielsweise ebenso vertieft wie die Vielfalt der hoch umkämpften Wirkungen auf die rheinabwärts liegenden Regionen.
Die Kooperation zwischen deutschen und französischen Ingenieuren und Institutionen war am Rhein bereits seit zweieinhalb Jahrhunderten überaus intensiv, und das oft gerade auch dann, wenn die politischen Gegensätze und zahlreichen Wechsel der politischen Regime anderes oder das Gegenteil erwarten ließen. Konfliktlos waren die Situationen dennoch nicht. Manche der zahlreichen transnationalen Divergenzen beispielsweise in Rechts-, Finanz- und Steuersystemen oder in ingenieurtechnischen Ausbildungsprofilen konnten bisweilen aber auch konstruktiv und komplementär zur Wirkung kommen. Die vielschichtige Realität grenzüberschreitender Kooperation im zukunftsorientierten Alltag tritt damit lebendig zutage: Heute haben Umweltprobleme allerhöchste gesellschaftliche Relevanz – am Rhein gehören sie seit Jahrhunderten zum Alltag, der bewältigt werden muss.
Die großen Veränderungen der Flusslandschaften lassen unter dem Gesichtspunkt deutsch-französischer Interaktionen, Gegensätze und Kooperationen viele primär politische Epochenabgrenzungen zurücktreten hinter langfristigen, umweltbedingten Prozessen. Das gilt bis in die nationalsozialistische Zeit und ihre das Kriegsende überschreitenden Wirkungen. Über lange Zeiträume dekonstruiert Bernhardt national aufgeladene Stereotype in Bezug auf Wasserbaumaßnahmen und deren negative Umweltfolgen. Dazu gehören ältere, für Umweltbewegungen oft zentrale, einseitige nationale Schuldzuweisungen für die Folgen von Eingriffen in den Flusslauf. Die Großprojekte der Begradigungen im 19. Jahrhundert und des Canal d’Alsace haben seit den 1920er Jahren stark zur nationalistischen Polarisierung beigetragen. Umgekehrt lag die Autorschaft für Großprojekte ebenso wie für zahlreiche kleinere und lokal begrenztere Herausforderungen weit häufiger als bisher bekannt bei »transnationalen Teams«. Die Fülle der Einzelsituationen zeigt damit zahlreiche, wenig oder nicht bekannte Ebenen der deutsch-französischen Kooperation auf in ihrem Spannungsverhältnis mit der Prägekraft nationalpolitischer Ziele, Einflüsse und Manöver, welche beispielsweise nach Ende des Ersten Weltkrieges in einander zuwiderlaufenden Konzepten besonders wirksam wurden.
Den Parametern der Entwicklung von Raum in den Geschichts- und Sozialwissenschaften laufen viele der Ergebnisse entgegen. Aufgrund der zahlreichen Anrainerstaaten des Rheins ist die Umweltgeschichte des Oberrheins ein genuin europäisches Thema. Nicht zuletzt war es der Rhein, der – etwa mit der Rheinschifffahrt – immer von neuem Anlässe dazu bot, von deutsch-französischen Problemen ausgehend europäisches Recht auf grundlegenden und zukunftsträchtigen Gebieten (weiter) zu entwickeln.
Das Buch, dem die Darmstädter Habilitationsschrift des Autors zugrunde liegt, ist mehrfarbig reichhaltig illustriert. Karten und Bilder unterstreichen die plastische Aussagekraft der Fülle an archivalischen und anderen Quellen deutscher und französischer Provenienz, auf deren ständiger transnationaler Vernetzung es gründet. Bernhardt beweist, wie unverzichtbar und hoch ergiebig es ist, sich gerade auch für Umweltthemen in der Forschung von immer noch verbreiteten nationalen Begrenzungen in der Materialgrundlage und in den Analyseparametern zu lösen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rainer Hudemann, Rezension von/compte rendu de: Christoph Bernhardt, Im Spiegel des Wassers. Eine transnationale Umweltgeschichte des Oberrheins (1800–2000), Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2016, 569 S., 31 s/w, 12 farb. Abb (Umwelthistorische Forschungen, 5), ISBN 978-3-412-22155-3, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57492