Wer »kennt« das Weihnachtsfest? In der Fülle aller seiner lokalen, regionalen und nationalen, astronomischen, gesellschaftlichen, theologischen, ethnologischen, politischen Kontexte und Konnotationen? Von den vorchristlichen Jahrhunderten bis 2016 reicht dieses spannende Buch. Alain Cabantous, Emeritus an der Universität Paris 1 – Pantheon-Sorbonne, und François Walter, Emeritus an der Universität Genf, erfassen auch alle Kontinente. Den Epochen und der allmählichen Verbreitung Weihnachtens bis zu einem quasi universellen Fest nach dem Zweiten Weltkrieg folgend, stehen Nah- und Mittel-Ost, Europa und Nordamerika im Mittelpunkt, viele andere Länder bis Indien, Nepal und China werden gelegentlich einbezogen. Die stete Integration der breiten Palette von wissenschaftlichen Disziplinen, deren Kenntnis für das Verständnis des Festes erforderlich ist, wird auch informierten Leserinnen und Lesern mit der Klärung bekannter und weniger bekannter Stereotype, Kontroversen, idées reçues und – oft scheinbar – gesicherter Erkenntnisse zahlreiche Anregungen und Aufschlüsse bringen.

Die Autoren schlüsseln zunächst die komplizierten astronomischen Zusammenhänge auf, welche seit der Spätantike die Diskussion um die Geburt Christi begleiten und bis heute in ihrem Gewicht bisweilen unterschätzt werden. Sie fächern sodann die unterschiedlichen Formen und Akzentsetzungen seit der späten Herausbildung des Festes im 4. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf. Die biblischen und die apokryphen Schriften werden exakt in ihren jeweiligen zeitgenössischen Zusammenhängen verortet, ihre komplexen Überlieferungs- und Interpretationsprobleme auf den Punkt gebracht. Die Überlagerungen der sich allmählich formenden Weihnachtsgeschichte(n) mit alt-testamentarischen und vorchristlichen Traditionen und Überlieferungen erfahren knappere Zusammenfassungen, weil sie bekannter sind.

Nur wenige Teilaspekte der unter den einzelnen Fragestellungen systematisch über Jahrhunderte durchgezogenen, hoch differenzierten Analysen können hier angedeutet werden. In den Ausprägungen des Weihnachtsfestes, seiner Repräsentationen und der vielschichtigen Transferprozesse erfuhren Riten und Symbole profunde Wandlungen. Der Weg von den Schäfern über die Weisen (mages) bis zu den Heiligen Drei Königen demonstriert es. Die Nativité in Architektur, Malerei, Skulptur und Literatur wird in ihren jeweiligen kunstgeschichtlichen, theologischen, gesellschaftlichen, moralischen und politischen Zusammenhängen und literarischen Formen bis zu Selma Lagerlöf und Thomas Mann analysiert. Die Kirchenmusik und ihre Aufführungspraxis in Konzert, Messe und Gottesdienst, die Ausformung der Messe- und Gottesdienstriten sowie die oft davon abweichenden Praktiken erscheinen im Rahmen der Festkulturen und ihren vielfältigen ethnologischen, gesellschaftlichen und politischen Vernetzungen. Die Entwicklung von Marienorden wird ebenso kontextualisiert wie die Darstellung des Jesuskindes in Relation zur Position von Kindern in der jeweiligen Gesellschaft sowie in der politischen Symbolik, wobei letztere besonders wirkmächtig war in monarchischen Systemen mit kindlichen Herrschern.

Viele Prozesse verliefen nach Regionen und Ländern phasenversetzt, Differenzen werden – bisweilen eindrucksvoll bis auf die lokale Ebene – exemplarisch herausgearbeitet. So verlieh die enge Vernetzung von Religion, Politik, gesellschaftlichen Konflikten und kulturellen Praktiken dem Weihnachtsfest eine zentrale Position in den Auseinandersetzungen der Glorious Revolution und strahlte von dort nachhaltig nach Nordamerika aus. Die gemeinhin mit dem 19. Jahrhundert verbundenen bürgerlichen Formen des Weihnachtsfestes machen die Autoren bereits wesentlich früher aus. Facettenreich wird die Vernetzung mit nationalistischen Diskursen, Riten und Propaganda im 19. und 20. Jahrhundert aufgefächert.

Die »interprétations laïques et [la] captation très politique de la nativité chrétienne« (S. 185) scheinen beispielsweise in den französischen und russischen Revolutionen oder im »germanischen« Nationalsozialismus in unterschiedlichsten Formen auf; der rechtsextreme Publizist Alain de Benoist übernahm solche NS-Inhalte unter Verschweigen ihrer Ursprünge in den 1980er und 1990er Jahren (S. 254 f.). Anthropologischen Interpretationen, welche manchen Symbolen den christlichen Ursprung absprechen, entgegnen die Autoren sorgfältig abwägend (S. 258ff.).

Der in protestantischen Regionen erst im 19. Jahrhundert auch im privaten Raum verankerte Tannenbaum erfuhr komplexe Wirkungen und Ablehnungen bis zu seinem – nur teilweise transnationalen – Durchbruch nach dem Krieg 1870/71 und der Reichsgründung, während in katholischen Regionen die Krippe weiter vorherrschend blieb. Nikolaus, Knecht Ruprecht und Weihnachtsmann werden interkontinental ausdifferenziert. Mit der allgemeinen Entwicklung der Familie als sozialer Institution war auch dies eng verflochten. Den weihnachtlichen Front-Fraternisierungen während der Grande Guerre messen die Autoren angesichts des Gewichtes der langfristig wirkungsvollen Gegenpropaganda durch die militärischen – und in Deutschland später nationalsozialistischen – Führungen erhebliche Bedeutung zu.

Die Säkularisierungsprozesse scheinen vielfältig auf. Aus Weihnachtsgratifikationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg sozialrechtliche Ansprüche. Die Weihnachtsansprachen von Staatsoberhäuptern wandelten sich zu Neujahrsansprachen und verleihen dem über zwei Jahrtausende verfolgten Spannungsverhältnis von Weihnachten, Silvester und Epiphanias in der Gegenwart indirekt neue Aktualität. In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts spiegeln die Kämpfe um Weihnachtskrippen in Frankreich die Vielschichtigkeit der 1905 kodifizierten Trennung von Kirche und Staat wider. Die Darlegung der scharfsinnigen, von konservativen französischen Politikern vor Gericht vorgebrachten Beweise: die Krippen hätten rein gar nichts mit Religion zu tun und ihre Aufstellung sei deshalb an öffentlichen Orten statthaft (S. 193ff.), gehören zu den vielen besonders unterhaltsamen Demonstrationen der Autoren.

Im Fazit werten Cabantous und Walter nicht so sehr langfristig fortlebende Weihnachtstraditionen als prägend, sondern betonen eher grundlegende Brüche im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Beispielsweise haben sich in Frankreich Osterferien seit 1859 und Weihnachtsferien seit 1925 etabliert, auch wenn die von Kaiser Konstantin als Tag von Christi Geburt auf den 25. Dezember fixierte astronomische Wintersonnwende hier »schon« 1802 als Weihnachtsfeiertag (S. 140) eingeführt wurde. Nepal schaffte diesen Feiertag 2016 wieder ab (S. 317).

Das Buch ist brillant geschrieben, der Humor der Autoren scheint auch in der Souveränität des wissenschaftlichen Urteils bisweilen leise durch. Eine Fülle glänzend gewählter Zitate verweist auf alte und neue Forschungen zahlreicher Disziplinen, die von der Astronomie bis zur Ethnologie in ihren Leistungen im Text und in den sehr gehaltvollen Anmerkungen ständig prägnant gewürdigt werden – und das auch dann immer fair, wenn die Autoren ihnen widersprechen. So bietet das Buch zugleich eine breit angelegte, prägnante Einführung in die sich über Jahrhunderte erstreckende interdisziplinäre Forschung und in die gesellschaftliche wie theologische Reflexion über das vielfältige Forschungsthema Weihnachten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Hudemann, Rezension von/compte rendu de: Alain Cabantous, François Walter, Noël. Une si longue histoire ..., Paris (Éditions Payot) 2016, 398 p., 8 p. de pl., ISBN 978-2-228-91663-9, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57497