Die Geschichtsschreibung zu den politischen Parteien im 19. Jahrhundert hat ein Bias zugunsten der liberalen, der sozialistischen und auch der katholischen Parteien. Die konservativen Parteien und Autoren sind dagegen – mit Ausnahmen wie der britischen Tories – chronisch unterbeforscht. Das hatte Gründe in der Profession der Historiker selbst, die als liberale Nationalgeschichtsschreiber selbst Partei waren. Es hatte aber auch Ursachen in den Quellen, die bei den Konservativen durch die Schwäche der Parteiorganisation sehr zerstreut sind. Diese Ausgangslage begünstigte ein etwas holzschnittartiges Bild der Konservativen als Partei und Ideologie, die sie an die Seite der Reaktion, der Gegenrevolution und der Monarchie rückte, ohne Unterschiede zu machen. Schon die Geschichte der britischen Tories zeigte aber, dass sich Konservative auch im modernen Parlamentarismus und in der konstitutionellen Monarchie erfolgreich betätigten.

Amerigo Caruso will dem in seiner Saarbrücker Dissertation zumindest für die preußischen und die piemontesischen Konservativen abhelfen. Er untersucht die konservative Publizistik vor und nach 1848, grob zwischen 1840 und 1870, als Italien und Deutschland zu Nationalstaaten wurden. Konnten sich konservative Autoren das erklärte Ziel der Revolutionen von 1848, den Nationalstaat, aneignen und ihm einen eigenen Sinn geben? Was sollte dann Volkssouveränität sein und wie verhielt sie sich zu Monarchie und Religion, respektive deren Konzeptionen von Souveränität? Mit Preußen und Piemont wählt der Autor zwei Staaten aus, die in der anschließenden Nationalstaatsbildung den Ton und die Richtung vorgaben.

Diese Studie beruht auf einer breiten Grundlage von ungedruckten und gedruckten Quellen. Neben den Quelleneditionen zu Diplomatie und Politik zieht der Autor Nachlässe in italienischen Archiven in Turin, Genua, Rom und Cuneo heran, auf der preußischen Seite den Nachlass von Generalfeldmarschall Albrecht von Roon im Militärarchiv in Freiburg i. Br. Außerdem wertet der Autor eine riesige Zahl von Flugschriften, Pamphleten, Zeitungsartikeln, Memoiren, theologischen und staatswissenschaftlichen Abhandlungen aus. Hinzu kommen literarische Quellen wie Romane, Erzählungen, Lieder und Gedichte in beiden Sprachen. Ein Personen- und ein Ortsregister runden den Band ab.

Amerigo Caruso gliedert seinen Stoff neben Einleitung und Schluss in drei große Kapitel: die konservative Mobilisierung der öffentlichen Meinung (Kapitel 1), der Diskurs zu Religion und Monarchie nach 1848 (Kapitel 2) sowie die konservative Debatte zu Nationalstaat und Nationalstaatsgründung (Kapitel 3) in beiden Ländern. Auf den drei Ebenen Öffentlichkeit, Monarchie und Nationalstaat arbeitet der Autor die Anpassungsfähigkeit der Konservativen heraus. Die Titelfrage »Nationalstaat als Telos?« beantwortet er mit einem klaren »Ja«. Konservative arrangierten sich in Preußen und Piemont mit der Idee und Praxis der Nationalstaatsgründung. Das immer wiederkehrende publizistische Motiv hierfür war die Revolutionsfurcht. Würde man sich nicht mit dem Nationalstaat arrangieren, dann drohte eine neue Revolution. Freilich gaben preußische wie auch piemontesische Konservative dem Nationalstaat einen anderen Sinn als die liberalen Nationalstaatsgründer. Er sollte die Monarchie stützen, nicht gefährden.

Trotzdem lauerte – zumal in Preußen – immer der Verdacht im Hintergrund, dass es sich umgekehrt verhalten würde und die Monarchie in den Dienst des Nationalstaates treten und sich so mitsamt ihren Hintersassen überflüssig machen würde. Das Verhältnis von Monarchie und Nationalstaat berührte schließlich die konservativen Militärs, den Adel, die Staatsrechtler, die Akteure dieses Buches ganz persönlich und bedrohte ihre Stellung und Rolle. Endlose Ströme von Tinte wurden hierzu vergossen. Caruso zeichnet die Grundlinien des konservativen Diskurses in vielen Verästelungen nach. Anknüpfungspunkte für eine Win-win-Situation für Nationalstaat und Konservative boten die nationale Expansion, im Falle der konservativen Unternehmer die industrielle Modernisierung und, für alle, die nationale Machtentfaltung.

Monarchisten hatten dennoch allen Grund skeptisch zu bleiben, verloren in Italien doch 1860 und in Deutschland 1866 viele Fürsten, darunter der König von Hannover, ihren Thron. Das Königreich Hannover wurde zur preußischen Provinz und die Fürstentümer Mittelitaliens und das Königreich Neapel-Sizilien gingen im italienischen Nationalstaat auf. Entsprechend bezeichneten Piemonts Konservative wie der Abgeordnete Luigi Costa di Beauregard den Nationalstaat Camillo Cavours und das Risorgimento als Zerstörung, Revolution, Umsturz der Throne und Unterwerfung unter die Hegemonie Napoleons III., nachdem Nizza und Savoyen an Frankreich gegangen waren.

Wenn die Annexion Hannovers Preußen auch stärkte, so blieb das den konservativen Anhängern der Krone doch verdächtig. Ludwig von Gerlach beschrieb das, was wir als Reichsgründungszeit bezeichnen, mit Zerfleischung, Zertrümmerung, Zerspaltung, Zerrüttung, Zerrissenheit, Zerreißung und Verderben. Der Nationalstaat brachte nicht wie versprochen Einheit, sondern Zerstörung. Den Patriotismus der Liberalen hielten die Konservativen für »Pseudo-Patriotismus«. Mit starken Kontrastbildern, der immer wieder forcierten Gut-Böse-Dichotomie und sarkastischen Antisymbolen emotionalisierten sie die politische Debatte und reduzierten deren Komplexität.

In immer neuen Zugängen arbeitet Amerigo Caruso die allmähliche pragmatische Neuorientierung oder die »kontrollierte Diskontinuität« (S. 445) der Konservativen im Umgang mit Nation und Nationalstaat heraus. Ihre politische Sprache teilte wesentliche Grundbestandteile der modernen politischen Semantik, die sich auch bei den Liberalen fanden: sie reduzierten Komplexität durch die Emotionalisierung des Politischen, sie suggerierten eine resolute Durchführung der eigenen Ideen, sie beschworen alternativlos wirkende Notwendigkeiten und sie definierten »überregionale, gruppenintegrative und gleichzeitig exklusive Identitätsmosaiken« (S. 445).

Im Ergebnis erzählten sie den Nationalstaat um und überwanden so die scharfe Entgegensetzung zur liberalen Nationalbewegung. Der Nationalstaat, so Caruso, konnte für unterschiedliche Richtungen Verschiedenes bedeuten. Zum Fixpunkt der konservativen Publizistik wurde die nationalstaatliche Machtkonzentration. »Sie basierte auf ungleichzeitigen und hybriden Patriotismen, die bereits existierende dynastische, literarische, religiöse und lokale Integrationsideologien in einem überregionalen Machtdiskurs zuspitzten. Eine teleologische und modernistische Geschichtspolitik war die zentrale Voraussetzung für die retrospektive Nationalisierung der Vergangenheit« (S. 447). Sein Fazit: Einerseits traf das bekannte Diktum „Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen“ auf die Konservativen zu. Andererseits zeigten sie sich erstaunlich pragmatisch, konnten vergessen und dazulernen und modernistische, positivistische und teleologische Argumentationsmuster übernehmen.

Amerigo Caruso zeichnet den breiten medialen Widerhall dieser Anpassung in Literatur, Predigten und Flugschriften nach. Er leistet einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur Geschichte des Konservatismus im 19. Jahrhundert. Die immer wieder beschworene Hinwendung der Konservativen zum Nationalstaat im Rahmen von Bismarcks Wende zum Schutzzoll 1878/1879 wird durch diese Studie einerseits verständlicher, andererseits relativiert, weil die Annäherung viel früher begann. Zweifel sind indessen an den nationalstaatlichen Zielvorstellungen in Piemont und Preußen angebracht. Caruso rückt sie nahe zusammen. Dabei entstand in Italien ein straff geführter Zentralstaat, in Deutschland aber ein stark föderalisierter Bundesstaat. Überhaupt fällt auf, wie wenig der Föderalismus als konservative Loyalitätsbrücke in den Nationalstaat in dieser Studie thematisiert wird.

Das Verhältnis von Konservativen und Nationalstaat fällt versöhnlich aus. Konflikte wie der bereits früh einsetzende Kulturkampf gegen die katholische Kirche in Preußen treten bei den vielen staatsnahen Akteuren der Studie zurück. Auch war der soziale Hintergrund der preußischen Rittergutsbesitzer und der piemontesischen Konservativen verschieden, was die konservativen Hasstiraden auf Bismarck noch 1872 erklärt, als dieser mit der Kreisreform in die lokale Autonomie der Rittergutsbesitzer eingriff. Dennoch argumentiert diese Studie auf höchstem analytischem Niveau und setzt Maßstäbe für die weitere Forschung zum Konservatismus.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Siegfried Weichlein, Rezension von/compte rendu de: Amerigo Caruso, Nationalstaat als Telos? Der konservative Diskurs in Preußen und Sardinien-Piemont 1840–1870, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2017, 516 S. (Elitenwandel in der Moderne/Elites and Modernity, 20), ISBN 978-3-11-054207-3, EUR 89,95., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57498