Der vorliegende Sammelband präsentiert vierzehn Beiträge zur Besatzungsgeschichte von 1914 bis 1949 und ist das Ergebnis zweier Konferenzen aus dem Jahr 2015. »Vivre l‘occupation sur le front Ouest pendant la Première Guerre mondiale« am Institut de recherches historiques du Septentrion in Lille konzentrierte sich auf die deutsche Besatzung Belgiens und Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs. Hingegen wurden unter dem Titel »Occupations and transfers of experience. From one front to another, from one war to another« am Institut d’études avancées in Paris Transfers zwischen verschiedenen Besatzungsregimen untersucht, vor allem zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Nordwesteuropa, aber auch außerhalb dieser Region.

Die Gliederung des Bandes folgt den thematischen Schwerpunkten der beiden Tagungen: Während die sieben Artikel des ersten Teils die deutsche Besatzung Belgiens und Nordfrankreichs von 1914 bis 1918 in den Blick nehmen, geht es in den sieben Artikeln des zweiten Teils um Transferphänomene zwischen 1914 und 1949.

Drei Aufsätze widmen sich der juristischen Aufarbeitung der Besatzung Belgiens im Zeitraum 1918 bis 1921. Gertjan Leenders untersucht Prozesse gegen Belgier, die der Denunziation von Mitbürgern beschuldigt wurden, Mélanie Bost und Élise Rezsöhazy behandeln Verfahren gegen belgische Agenten der deutschen Spionageabwehr.

Hervorzuheben ist der Artikel von Jan Naert, der die politische Säuberung unter den belgischen Bürgermeistern analysiert. Letztere waren als Repräsentanten der lokalen Autonomie bereits vor 1914 wichtige Amtsträger und gewannen während der Besatzung noch an Bedeutung. Lediglich 27 von 2.583 Bürgermeistern wurden nach 1918 ihres Amtes enthoben, nur drei von ihnen wegen politischer Kollaboration. Die anderen verloren ihr Amt, weil sie der persönlichen Bereicherung oder der Mitwirkung an der Deportation von Zwangsarbeitern für schuldig befunden wurden. Daneben gab es jedoch auch weniger schwerwiegende Sanktionen, die von der Ermahnung bis zum erzwungenen Rücktritt oder dem Verbot sich zur Wiederwahl zu stellen reichten und die statistisch nur schwer zu erfassen sind. Solche disziplinarischen Maßnahmen trafen vor allem die Amtsträger kleinerer Gemeinden.

In den Großstädten wurden die örtlichen Funktionäre hingegen heroisiert, wie der Beitrag von Laurence van Ypersele und Klara Vanraepenbusch zeigt, der sich vergleichend mit der belgischen Gedenkkultur in den Städten Brüssel, Antwerpen und Lüttich beschäftigt. Nach 1918 wurden hier Straßen und Plätze nach Bürgermeistern und Stadtverordneten sowie Funktionären des für die Versorgung des Landes so wichtigen Ernährungswerks benannt; und dies, obwohl viele der Geehrten noch am Leben waren. Einfachen Bürgern wurde die Ehre eines Straßennamens hingegen nur nach ihrem Ableben zuteil und dies auch nicht überall. Während in Brüssel und Lüttich von den Deutschen exekutierte Bürger offiziell geehrt wurden, war das Gedenken an diese Opfergruppe in Antwerpen weniger präsent und vor allem der Initiative eines privaten Komitees zu verdanken. Den villes martyrs (»Märtyrerstädten«) des August 1914 wurden hingegen in allen drei Städten Straßen gewidmet, deren Namen ersetzten häufig jene deutscher Städte. In Antwerpen wurden sogar die auf das belgische Königshaus verweisenden, nach Sachsen und Coburg benannten Straßen umbenannt.

Dies entsprang einer patriotischen Haltung, die ihre Wurzeln in der Besatzungszeit hatte und von Antoon Vrints untersucht wird. Er konstatiert, dass es während des Kriegs keineswegs zu dem befürchteten moralischen Verfall kam, sondern sich im Gegenteil ein moralischer Rigorismus durchsetzte, der sich am Rollenmodell des sich für sein Vaterland opfernden Soldaten orientierte. Leiden und Entbehrung erschienen auch im Besatzungsgebiet als vaterländische Pflicht, Vergnügungen hingegen geradezu als Verrat. Normen wurden notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt, etwa gegenüber Konditoreien, die weiterhin Süßspeisen verkauften.

Mit der Besatzung Nordfrankreichs im Ersten Weltkrieg beschäftigen sich zwei Beiträge. Matthias Meirlaen beleuchtet die Schwierigkeiten des Gedenkens in den Departements Nord und Pas-de-Calais, in denen die Kriegserfahrung sich stark von den unbesetzten Teilen Frankreichs unterschied. Philippe Salson behandelt die Begegnung mit dem Feind anhand des Tagebuchs von Henriette Moisson, einer jungen Frau aus der Nähe von Saint-Quentin. Anhand dieses Fallbeispiels kann er verdeutlichen, dass die Einstellung gegenüber der Besatzungsmacht keineswegs unveränderlich war und einer Vielzahl von Faktoren unterlag.

Die Moissons unterhielten sozialen Kontakt zu bei ihnen einquartierten Deutschen, mit denen die Familie sogar gemeinsam aß, auch um ihre Tätigkeit in einem Netzwerk zur Unterstützung untergetauchter Franzosen zu tarnen. So entwickelten sich zwischen Besatzern und Besetzten persönliche Kontakte, die dazu führten, dass die junge Autorin ein differenzierteres Bild vom Feind entwickelte, als dies zu Beginn der Besatzung der Fall gewesen war, und sogar Deutsch lernte.

Die sieben Beiträge des zweiten Teils beschäftigen sich mit Erfahrungstransfers, sowohl von einem Krieg zum anderen als auch zwischen verschiedenen Fronten desselben Konfliktes. Im Gegensatz zum ersten Teil behandeln lediglich drei Aufsätze Belgien, während der Rest sich anderen Besatzungsgebieten zuwendet und Nordfrankreich kein eigener Text gewidmet ist.

Thomas Graditzky zeigt auf, wie sich die vor 1914 skeptische Haltung Belgiens gegenüber den Haager Konventionen während des Ersten Weltkriegs veränderte und man diese als juristische Grundlage für die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungsmacht schätzen lernte. Umgekehrt spielten die Haager Konventionen auch dort eine Rolle, wo die Belgier selbst Besatzungsmacht waren: während des Kriegs in Deutsch-Ostafrika und nach dem Krieg im Rheinland sowie später im Ruhrgebiet.

Chantal Kesteloot und Bénédicte Rochet vergleichen das Verhalten der Bürgermeister der neunzehn Brüsseler Gemeinden während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Anders als 1914 verhielten sich die Bürgermeister 1940 zunächst wesentlich kooperationswilliger gegenüber der deutschen Besatzungsmacht. Ein Grund hierfür waren der eindeutige deutsche Sieg, aber auch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Im Verlauf der Besatzung nahmen die Konflikte mit der Besatzungsmacht jedoch zu, nicht zuletzt als diese in die Verwaltungsstrukturen eingriff, um ein Groß-Brüssel zu schaffen. Die Erinnerung an diesen Widerstand ist wohl auch ein Grund dafür, dass es bis heute in Brüssel im Gegensatz zum Rest des Landes nicht zu einer Fusion der Teilgemeinden kam.

Den konkreten Versuch eines Erfahrungstransfers behandeln Marnix Beyen und Svenja Weers. Mitte 1943 richtete die deutsche Militärverwaltung eine historische Kommission ein, um aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs für die eigene Besatzungspraxis zu lernen. Hierbei konnte man sich auf umfangreiche Vorarbeiten stützen, die bereits 1917 begonnen und in der Zwischenkriegszeit fortgesetzt worden waren.

Vier Aufsätze haben keinen direkten Bezug zu Belgien und Nordfrankreich. Heiko Brendel behandelt den Einfluss, den die Erfahrungen der österreichisch-ungarischen Armee bei der Aufstandsbekämpfung auf dem Balkan auf die deutsche Militärtheorie der Zwischenkriegszeit und das Vorgehen gegen Partisanen während des Zweiten Weltkriegs hatten. Leonid Rein beschäftigt sich mit der Frage, ob die Begegnungen deutscher Soldaten mit der jüdischen Bevölkerung Osteuropas im Ersten Weltkrieg einen Einfluss auf das Verhalten im Zweiten Weltkrieg hatten.

Barbara Lambauer befasst sich mit den deutschen Besatzungspraktiken des Zweiten Weltkriegs, die sich zunächst in Westeuropa stark von jenen in Ost- und Südosteuropa unterschieden, sich gegen Ende des Kriegs aber einander annäherten. Hierbei konstatiert sie nicht nur eine Brutalisierung durch Truppen die von der Ostfront in den Westen verlegt wurden, sondern auch einen Transfer in die Gegenrichtung. So sei das in Frankreich erfolgreiche Konzept der Kollaboration mit den einheimischen Behörden auch auf Kriegsschauplätze im Osten übertragen worden.

Der abschließende Beitrag ist der einzige, der sich nicht mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Drew Flanagan untersucht den Einfluss kolonialer Praktiken auf die französische Besatzungspolitik in Deutschland von 1945 bis 1949. Alle drei französischen Kommandanten in diesem Zeitraum hatten in Marokko gedient und insbesondere General Joseph de Goislard de Monsabert, der die französischen Besatzungstruppen in Deutschland von Juli 1945 bis September 1946 führte, war von den Lehren des Marschalls Hubert Lyautey beeinflusst, die dieser anhand seiner Erfahrungen in Nordafrika formuliert hatte.

Die Beiträge des Sammelbandes beleuchten vielfältige Aspekte von Besatzungsherrschaft, insbesondere ihren Einfluss auf die Nachkriegsgesellschaften, vor allem in Belgien und Nordfrankreich. Letzteres ist Stärke und Manko zugleich, da der Titel eine breitere thematische Fächerung suggeriert. Eine bemerkenswerte Lücke, die allerdings nicht den Autoren zum Vorwurf gemacht werden kann, ist die belgische und französische Besatzung des Rheinlands in den 1920er Jahren, die nur von Graditzky am Rande gestreift wird. In diesem Sinne kann den Herausgebern nur beigepflichtet werden, dass es sich bei der Besatzungsgeschichte um ein Thema handelt, das noch mehr Aufmerksamkeit als bisher verdient.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jakob Müller, Rezension von/compte rendu de: James Connolly, Emmanuel Debruyne, Élise Julien, Matthias Meirlaen (dir.), En territoire ennemi. Expériences d’occupation, transferts, héritages (1914–1949), Villeneuve-d’Ascq (Presses Universitaires du Septentrion) 2018, 234 p., nombr. ill. (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-1924-3, EUR 23,00., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57502