Die französische Zensur im Ersten Weltkrieg stellte einen Bruch dar mit der langen französischen Tradition der Zensur von Sitten, politischen Meinungen und akademischen Publikationen, welche primär auf soziale Kontrolle zielte: Es ging jetzt um die Steuerung der öffentlichen Meinung in einem langen, existenzbedrohenden Konflikt und um den Schutz der Bevölkerung davor, das ganze Grauen des Krieges während dessen Dauer zu erfassen. Die sofort nach Kriegsbeginn verfügte Zensur argumentierte damit, dass die deutsche Führung im Krieg 1870/1871 die französische Strategie den französischen Zeitungen habe entnehmen können – vorgeblich ein Grund für die eigene Niederlage.
Jegliche militärische oder diplomatische Information wurde am 5. August 1914 gesetzlich als Straftat eingestuft, zuständig wurden die Kriegsgerichte. Das führte zu jahrelangen erbitterten Auseinandersetzungen um die Grenzziehung für solche Kriterien, da sie an die Grundwerte der Republik rührten. Aufgehoben wurde die Zensur erst im Oktober 1919. Noch kurz zuvor waren sogar einige neue Vorschriften erlassen worden.
Olivier Forcade hat eine große Spannbreite archivalischer und gedruckter Quellen ausgewertet, darunter die Bestände der Verteidigungs-, Innen- und Justizministerien, mehrerer Departementalarchive, der Polizeipräfektur in Paris, der Sozialistischen Partei, Nachlässe maßgeblicher Staatsmänner, die Parlamentsdebatten, die Pressearchive von »Le Matin« und »Havas« sowie zahlreiche Zeitungen. Seine Analyse führt die einander ergänzenden Ebenen des Staates, des Zensuralltags und der Publikationsorgane zusammen. Viele Zensoren sind namentlich bekannt. Zu ihnen und ihren Vorgesetzten gehörten auch bedeutende Repräsentanten unterschiedlicher Berufsfelder, beispielsweise der Germanist Henri Lichtenberger oder der Diplomat Philippe Berthelot. Die Kompetenz mancher Zensoren war – entgegen ihrem öffentlichen Ruf – nicht zu unterschätzen. Alle Parteien versuchten, Gewährsleute im Zensurapparat zu platzieren.
Die in großem Umfang erhaltenen Zensurakten erlauben im Vergleich mit den jeweiligen Publikationen und gestützt auf begleitende Korrespondenzen oder Notizen eine exakte Rekonstruktion vieler Zensurentscheidungen, der administrativen Strukturen und ihrer vielschichtigen Weiterentwicklung im Kriegsverlauf. Anekdoten fehlen nicht – so zensierte Guillaume Apollinaire die Zeitschrift »Calligrammes«, in der er selbst publizierte (S. 119). Und Ministerratspräsident René Viviani war irritiert über die Zensur einer seiner Parlamentsreden in der Presse – sie war nach seinen eigenen Zensurvorschriften erfolgt (S. 127).
Der französischen Bevölkerung blieb die Realität des Krieges trotz der massenhaften Verluste schon seit Sommer 1914 verborgen – soweit nicht allmählich Gerüchte, das Wissen um Kriegsopfer im Ort oder andere unsystematische Quellen Zweifel an den offiziellen Kommuniqués des Oberkommandos aufkommen ließen. Kriegsberichterstatter gab es nicht (u. a. S. 276), Kritik an der militärischen Führung ohnehin nicht. »Rien à signaler sur l’ensemble du front« (Zitat S. 71, Winter 1915) war eine Berichtsdevise nicht nur der deutschen Obersten Heeresleitung. Georges Clemenceau führte einen scharfen politischen Feldzug gegen die Zensur an, bis er im November 1917 selbst président du Conseil wurde und ebenso wie sein Kabinettschef Georges Mandel auf die Gegenseite überging: er ordnete sofort unter anderem ein rigoroses Vorgehen gegen Pazifisten und défaitistes an. Mehrere Versuche von Parlamentariern seit Anfang 1915, die Kammern an der Kontrolle des bureau de la presse zu beteiligen, blieben in der Praxis weitgehend erfolglos.
Die Zensur hatte, wie in anderen Ländern, mit einer Fülle von Widersprüchen fertig zu werden. Etwa wenn die Propaganda tatsächliche oder angebliche deutsche Kriegsverbrechen in Nordfrankreich und Belgien anfangs groß herausstellte, die Zensur aber zugleich mit allen Mitteln den Frontverlauf ebenso zu verschleiern trachtete wie das Leiden der Soldaten und Zivilbevölkerung sowie eigene Verbrechen. Im Propagandakrieg verbot das Oberkommando schließlich Zitate aus den deutschen OHL-Meldungen mit der Begründung, sie enthielten zu viele Lügen über französische Verluste.
Man verheimlichte die horrenden Zahlen militärischer Opfer ebenso wie die fortschreitende Ausdehnung des Krieges, darunter die Kämpfe in der Türkei, die Niederlagen der Entente-Mächte in Übersee, die deutsche Kriegserklärung an Rumänien. Karten und Fotos fehlten. Über Verdun wurde 1915/1916 eine völlige Informationssperre verhängt; verschwiegen wurden die Notwendigkeit der amerikanischen Kriegskredite, der unbeschränkte U-Boot-Krieg 1917, die Meutereien und inneren Streikbewegungen, die Anwerbung chinesischer und vietnamesischer Rüstungsarbeiter, deutsche Friedensinitiativen oder die Russische Revolution. Die Informationspolitik erfuhr im Kriegsverlauf Nuancierungen, sie blieb insgesamt aber strikt.
Forcade analysiert diese Entwicklungen ebenfalls aus der Perspektive zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlichster Art und politischer Orientierung aus dem ganzen Land. Hier kommen auch die Intellektuellen zu Wort. Die politischen Parteien setzten sich mit der Zensur umfassend auseinander und hatten zwischen Patriotismus, Zensur und politischer Opposition, zwischen Eingriffen und Nuancierungen der Zensur eine große Spannbreite an Problemen zu bewältigen, die von Forcade präzise ausdifferenziert werden. Insgesamt gelang es der Presse dennoch immer wieder, Hinweise auf Teile der Kriegsrealität in verdeckten Formen einfließen zu lassen: perfekt wurde die Zensur nicht.
Die Zensurakten erlauben ebenso eine genaue Rekonstruktion der unterschiedlich und differenzierter gehandhabten Buch-Zensur, welche das gesamte intellektuelle Leben des Landes betraf; Romain Rolland gilt eine eigene Analyse. So galt es beispielsweise eine Balance zu finden bei Büchern, welche zwar im Ausland – etwa der Schweiz – französischen Propagandainteressen dienen konnten, aber nicht im Inland. Schließlich lässt sich die Zensurpraxis in Theater, Cabarets, Konzerten und Film anhand der Akten der Polizeipräfektur (allein fast 25 000 für die zensierten Chansons, S. 328, 423) rekonstruieren und mit der Vorkriegszensur vergleichen. So schlugen erwartungsgemäß deutschfeindliche Produktionen besonders durch.
Die vor dem Krieg reichhaltigen antimilitaristischen Chansons verschwanden dagegen völlig: Der Krieg markierte »la fin d’une certaine chanson révolutionnaire, anarchiste et libertaire qui a connu son âge d’or« (S. 349), während die Chansons zugleich »une assez exacte chronique des difficultés de la guerre« lieferten (S. 352).
Die massenhafte Ablehnung des Krieges brach in Frankreich erst nach dem Sieg durch, als die Lügen und die Informationsverweigerung der Propaganda und der Zensur deutlich wurden. Das volle Ausmaß der Verheerung des Landes, der Verlust an Zivilisation, der Umfang der Opferzahlen von Toten, Hinterbliebenen, Verstümmelten bis zu Traumatisierten drang erst jetzt in das Bewusstsein der breiten Bevölkerung ein. Zur Schärfe deutsch-französischer Konfrontationen in den Nachkriegsjahren trug auch diese Phasenverschiebung bei. Die Republik ab 1939 und Vichy ab 1940 schlossen unmittelbar an diese Zensurerfahrungen und -instrumente an.
Im Fazit sieht Forcade in den Zensurwirkungen der Grande Guerre den Beginn des Niedergangs der großen unabhängigen Zeitungstitel und des Ansehens der politischen Meinungsblätter im Frankreich des 20. Jahrhunderts.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rainer Hudemann, Rezension von/compte rendu de: Olivier Forcade, La censure en France pendant la Grande Guerre, Paris (Fayard) 2016, 473 p., ill., tabl., ISBN 978-2-213-69368-2, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57504