Durch einen neuen »räumlichen Zugriff« möchte der Autor, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster, die »in einer festen Routine« erstarrte Erinnerung an »1968« aufbrechen. Er fragt nach Bedeutung, Verlauf und Folgen der 68er-Bewegung in Westfalen und versucht sich aus dieser »regionalen Perspektive an einer Einschätzung, wieviel Aufbruch, wieviel Bewegung, aber auch wieviel Kontinuität ›1968‹ tatsächlich brachte« (S. 9). Dieser Ansatz ist zwar nicht ganz so neu, wie Großbölting behauptet – richtig ist aber zweifellos, dass sich die einschlägige Forschung bisher auf die Zentren der Bewegung konzentrierte, in der Bundesrepublik also auf Westberlin, Frankfurt am Main und München.
Wenn räumliche Aspekte dabei überhaupt eine Rolle spielten, so allenfalls im Fall Westberlins mit der »Insellage« der »Frontstadt«. Wer aber, so betont der Autor zu recht, die »Wirkung der Protestbewegung« einschätzen möchte, sei gut beraten, nicht nur die großstädtischen Zentren in den Blick zu nehmen, sondern »in der Provinz und in der Fläche zu analysieren, was ›1968‹ war«, welche Dynamik dieses Jahr »im Vergleich zu vielen anderen säkularen Prozessen der Veränderung« entfaltete (S. 11). Sein Interesse gilt also der Frage, welche »genuin lokalen oder regionalen Momente« den Protest vor Ort motivierten oder zumindest anreicherten (S. 22). Aufgrund dieser regionalgeschichtlichen Perspektive kann es schon mal passieren, dass Ereignisse auf der »großen Bühne« nicht ganz präzise wiedergegeben werden: Die Prügelorgie der sogenannten Jubelperser anlässlich des Schahbesuchs am 2. Juni 1967 spielte sich nicht abends vor der Deutschen Oper ab, sondern mittags vor dem Schöneberger Rathaus (S. 36f.)
Als Quellen dienten Materialien u. a. aus den Universitätsarchiven Bochum und Münster, dem nordrheinwestfälischen Landtag und der regionalen Presse. Zunächst widmet sich Großbölting dem Zusammenspiel lokaler, nationaler und internationaler Einflüsse um das Jahr 1968. Die Protestbewegung, so sein Befund, startete in Westfalen »nicht bei Null«, sondern konnte an eine »durchaus beachtliche Protesttradition« (S. 33) – z. B. Proteste gegen atomare Bewaffnung, Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, »Halbstarkenkrawalle« – anknüpfen.
Allerdings beschränkten sich die Proteste etwa nach dem Attentat auf Rudi Dutschke auf einige wenige Universitätsstädte wie Bochum und Münster, und sie blieben auch weitgehend friedlich. Jedenfalls, so der Autor, hätten »die meisten Menschen in Westfalen« die Ereignisse »vor allem über die Presse miterlebt« (S. 53). Die entsprechenden Darstellungen schwankten zwischen »Sensationslust« und der »Überbetonung von Äußerlichkeiten« und orientierten sich an den »Maximen ›Ruhe‹ und ›Ordnung‹« (S. 54). Und falls »Volkes Stimme« zitiert wurde, klang das auch in der »Westfälischen Rundschau« so, wie man es auch aus Westberlin kennt: »Da haben sie den Langhaarigen endlich gepackt«, kommentierte beispielsweise ein Kellner die Nachricht vom Attentat auf Dutschke (S. 55).
Im zweiten Kapitel stehen die verschiedenen Anlässe, Akteure und Protestformen im Mittelpunkt. Der Streit um bessere Studienbedingungen und eine bessere Ausstattung der Hochschulen stellte ein gängiges Motiv für Proteste dar. Daneben regte sich eine breite Schülerbewegung, getragen vorrangig von Gymnasiasten, die sich über mangelnde Mitsprachemöglichkeiten beklagte, aber auch »allgemeinpolitische Themen wie den Vietnamkrieg oder die Notstandsgesetze« zur Sprache brachte (S. 74). Auch die Rote-Punkt-Aktionen gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr – solidarische Autofahrer signalisierten Mitfahrangebote an streikende Fahrgäste durch einen roten Punkt an der Windschutzscheibe – sorgten für Furore. Im dritten Kapitel geht es um Räume »alternativer Lebenskultur« (S. 108) wie Buchläden, Frauenhäuser, Wohngemeinschaften, Kommunen und besetzte Häuser.
In seinem Resümee hält Großbölting fest, dass »1968« Gesellschaft, Politik und Kultur in der Region »intensiver und tiefgreifender als andere Zeitabschnitte« (S. 137) verändert habe. Zwar suche man »das westfälische Ereignis« (S. 138) vergeblich; stattdessen machten »die vielen kleinen Konflikte und daraus resultierenden Regelverschiebungen die Bedeutung von ›1968‹ aus« (S. 139). Überdies liefen manche der Liberalisierungsprozesse »zeitversetzt und langsamer« ab (S. 142). Deshalb war die Provinz für die Protagonisten der 68er-Bewegung insbesondere wegen der »stärkeren Bindung an die Tradition« zunächst »ein schwieriges Pflaster« (S. 143) – aber durchaus kein auf Dauer resistentes. Wie sich die welt- und bundespolitischen Ereignisse um das Jahr 1968 in der Provinz auswirkten, wie nachhaltig und tiefgehend die damals angestoßenen Veränderungen auch in Westfalen waren, zeigt diese verdienstvolle Studie.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Thomas Großbölting, 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung, Münster (Ardey-Verlag) 2018, 172 S., 25 Abb. ISBN 978-3-87023-404-1, EUR 13,90., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57507