Die Heidelberger Dissertation beschreibt die Bedeutung der NS-Vergangenheit für das Gedenken und die diesbezüglichen Identitätskonstruktionen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Republik Österreich. Die Arbeit prüft insbesondere die These des Soziologen M. Rainer Lepsius, der mit Bezug auf die drei Staaten postulierte, die »Vergangenheitsbewältigung« sei unter die drei Begriffe Internalisierung, Universalisierung und Externalisierung zu subsumieren. Westdeutschland habe die NS-Zeit akzeptiert und in sein Geschichtsbild integriert; Ostdeutschland habe diese als Faschismus und Kapitalismus in universale Probleme uminterpretiert und allein der Bundesrepublik Deutschland aufgebürdet; Österreich habe den Nationalsozialismus als externes deutsches Problem gesehen und sich damit ebenfalls aus der Verantwortung gestohlen.
Im Wesentlichen folgt das Werk einer chronologischen Gliederung. Nach einer Charakterisierung der Etablierung erster offizieller Geschichtsbilder und Gründungsmythen bis in die 1970er Jahre zeigt die Autorin den Wandel dieser Konzeptionen bis zum Ende der 1980er Jahre sowie neue Formen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in den 1990er Jahren, als der (west-)deutsche Diskurs über die Vergangenheit eine hegemoniale Stellung erlangt hatte, an die sich Österreich und die DDR (vor ihrem Untergang) anpassten. Die Verfasserin lässt wesentliche Stationen – Ausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust«, verschiedene Jahrestage, Gedenkinitiativen und Skandale wie Bitburg (1985), Waldheim (1986), Jenninger (1988) – Revue passieren, wobei sie im Wesentlichen auf offizielle Verlautbarungen staatlicher Repräsentanten sowie Zeitungen, Zeitschriften und Presseausschnittssammlungen zurückgreift.
Es überrascht nicht, dass durch die Herausarbeitung der unterschiedlichen Dynamiken und Einflüsse auf das Gedenken die pauschale Lepsius-These stark differenziert wird. Das Erinnern an die NS-Zeit blieb nicht statisch, sondern wandelte sich, nahm Anregungen der Nachbarstaaten auf, wurde in allen drei Staaten instrumentalisiert und obwohl sich das westdeutsche Gedenken als dominant erwies, gab es auch hier Defizite. Wer sich über die unterschiedlichen Gedenkansätze und ihren Wandel informieren will, wird an diesem kompetent und schlüssig präsentierten Werk nicht vorbeikommen.
Und dennoch gibt es einige gravierende Einwände: Über all den Gemeinsamkeiten der Vergangenheit gehen nämlich die Unterschiede fast völlig unter. Durch die Konzentration auf die sogenannten »Elitendiskurse« (S. 24) um das staatliche Gedenken und Vergangenheitsdebatten bleiben regionale Differenzierungen auf der Strecke. Es ist aber davon auszugehen, dass in bestimmten Regionen die »Vergangenheitsbewältigung« eine größere Rolle gespielt hat als beispielsweise in anderen Gegenden. So war Oberösterreich (mit der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und dem »Euthanasie«-Gedenkort Hartheim) vermutlich früher und massiver mit der Problematik konfrontiert als beispielsweise das Burgenland. Oder spielten diese authentischen Orte eine geringere Rolle für das nationale Erinnern als bisher angenommen? Aber auch: Inwiefern ist die ostdeutsche Akzeptanz des westdeutschen Erinnerungsduktus mit seiner Dominanz des Holocaust dadurch erkauft worden, dass das Gedenken an die SED-Verbrechen einen nahezu identischen Stellenwert einnimmt? Und überspitzt gesagt: Hat nicht doch die Universalisierung im Gedenken gesiegt? Die nationalsozialistischen Verbrechen sind ja über den Menschenrechtsdiskurs zu einem universellen Paradigma geworden.
Darüber hinaus ist die Annahme einer gemeinsamen Vergangenheit insgesamt nicht unproblematisch. Für die Deutschen zerfällt die Geschichte des Nationalsozialismus in zwei mehr oder weniger gleich große Hälften: Vorkriegszeit und Krieg. Während Historiker zurecht den Terror gegen die politischen Gegner 1933, die Errichtung der ersten Konzentrationslager, den Boykott gegen die jüdischen Geschäfte, die sogenannten Nürnberger Gesetze und viele andere Unterdrückungsmaßnahmen seit 1933 betonen, überzeugte Hitlers Herrschaft nach holprigem Beginn viele Deutsche durch außenpolitische Erfolge und stabile innenpolitische Verhältnisse. Neben der steten Gewalt gab es in den Augen der Zeitgenossen eben auch glanzvolle Höhepunkte (unblutige Gebietsgewinne durch die Saarabstimmung 1935, Remilitarisierung, Olympische Spiele, Staatsbesuch Mussolinis etc.). Für Österreich ist der Nationalsozialismus dagegen untrennbar mit dem Krieg verbunden, gerade einmal eineinhalb Jahre lebten die Österreicher unter Hitlers Herrschaft ohne Krieg.
War schon die Geschichte während des Dritten Reichs (der Begriff ist für Österreich natürlich anachronistisch!) asynchron, so ist die Vorgeschichte noch disparater. Den Vielvölkerstaat Österreich hatten ja die Staaten des Deutschen Bundes schon 1848 nicht in ein geplantes Deutsches Reich integrieren wollen, die Differenzen zwischen der multinationalen Habsburgermonarchie und dem ethnisch weitgehend homogenen Preußen eskalierten im Krieg von 1866. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte Österreich-Ungarn nicht nur gegen die Entente, sondern auch gegen die Nationalitätenkonflikte (und Desertionen) in den eigenen Streitkräften.
Wenn der Versailler Vertrag ein harter Schlag für die Deutschen war, so war der Vertrag von Saint-Germain ein kompletter Knock-out. Von einem Riesenreich blieb 1918 nur ein Rumpf, den kaum einer in Österreich für überlebensfähig hielt. Wie viel von dem Jubel über den »Anschluss« 1938 genuine Begeisterung für Hitler war und wie viel eine Trotzreaktion und verspätete Rache an der Entente, die den Anschluss »Deutschösterreichs« an das Deutsche Reich 1918/1919 verboten hatte? Natürlich ist die österreichische Pose des »ersten Opfers« widerlegt, doch war der Einmarsch der Wehrmacht 1938 eben eine militärische Intervention. Der Austrofaschismus bis 1938, das sogenannte »Umsturzpogrom« mit den folgenden »wilden Arisierungen«, der Verlust der Eigenstaatlichkeit, die Degradierung Wiens zu einer Provinzhauptstadt des Deutschen Reichs waren genuin österreichische Erfahrungen, die kein deutsches Pendant haben.
So begeistert viele Österreicher 1938 den »Anschluss« begrüßt hatten, so schnell und radikal war die Abkehr von den Nationalsozialisten nach der Niederlage von Stalingrad, die sich im Altreich nur teilweise wiederfindet. Die Ostmark hatte es mit Hitler probiert – und als sich die Wahl als eine schlechte erwies, war die Bereitschaft, den Nationalsozialismus fallenzulassen, viel größer als im »Altreich«. Diese doch eben auch recht unterschiedliche Geschichte hat Einfluss auf die Gedenklandschaft: Wer in der Bundesrepublik Deutschland weiß mit dem 12. März 1938 als Gedenktag etwas anzufangen? Wie wichtig ist umgekehrt das Gedenken an die »Machtübernahme« vom 30. Januar 1933, die Weiße Rose oder den 20. Juli 1944 in Österreich? Hinzu kommt die Neutralität Österreichs nach 1945/1955 auf der einen Seite und der offensiv ausgetragene Antagonismus der beiden deutschen Staaten auf der anderen Seite, der zu überspitzten Positionen aller Beteiligten führte. So krankt die Studie doch auch ein wenig an einer sehr westdeutschen Sicht der Dinge.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Edith Raim, Rezension von/compte rendu de: Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen (Wallstein) 2017, 591 S. (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 11), ISBN 978-3-8353-3087-0, EUR 49,90., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57516