»Verglichen mit den Vereinigten Staaten oder Großbritannien hat eine Geschichte der Populärkultur in vielen europäischen Ländern, gerade auch in Deutschland und Frankreich, lange einen schweren akademischen Stand gehabt.1« Mit diesen Worten beginnt der Call for Papers für die Tagung, auf der der vorliegende Band beruht2. Das ist einerseits eine scharfe Beobachtung und andererseits ein Armutszeugnis für die genannten akademischen Landschaften in Europa. In dieser Aufsatzsammlung schließen Wissenschaftler/innen verschiedener kulturwissenschaftlicher Fachrichtungen und Qualifikationsstufen diese Lücke. Somit leistet der Band einen Beitrag zur expandierenden Literatur zu Phänomenen des Populären nach 1945 in den letzten Jahren.

In seiner Einleitung umreißt Dietmar Hüser, der an der Etablierung des Forschungsfeldes aktiv beteiligt war, das Programm des Bandes in knapper Form. Er betont, wie sehr die transnationale Dimension bislang vernachlässigt wurde (S. 8). Diesem Befund ist beizupflichten, zumal gerade Populärkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Motor der Transnationalisierung und der Sinnstiftung über Grenzen hinweg darstellte. Auch der gewählte Ansatz aus Vergleich und Transfer bietet sich für die Analyse der transnationalen Dimensionen an und erfreut sich seit den späten 1990er Jahren an großer Beliebtheit. In Bezug auf die Periodisierung bezieht sich der Band implizit auf Arthur Marwicks einflussreiche Studie zu den »langen« 1960er Jahren, der den Zeitraum von ungefähr 1958 bis 1974 ansetzt3. Der Band gliedert sich in die Teile »Lesen«, »Hören«, »Sehen«, »Erleben« und »Mitreden«. Diese Herangehensweise ist sehr sinnig, da dadurch verschiedene Medien und Praktiken innerhalb der Populärkultur sichtbar gemacht werden.

Im Folgenden werden einige Aufsätze näher betrachtet. Im Bereich »Lesen« ist der Beitrag von Marcel Kabaum hervorzuheben, da der Autor sich auf eine sehr spannende Quellenbasis in Form von Schülerzeitungen stützt. Dadurch wird die Sicht von Schülerinnen und Schülern auf amerikanische Jugendkultur exemplifiziert. Leider geht die Analyse nicht über den Inhalt der Schülerzeitungen hinaus und deren Produktionskontexte werden ausgeblendet.

Alexander Simmeth widmet sich im Teil »Hören« dem Musikgenre Krautrock. Geschickt erläutert er die verschiedenen Rezeptionskontexte in Großbritannien und den USA. Wo die britische Musikpresse Anfang der 1970er Jahre einen Rückbezug auf Wagner, die E-Avantgarde und den Einsatz von sanften Klängen wahrnahm, hörten amerikanische Journalisten einen kühlen, abgehackten Sound, der dem »Space Age« und dem Science-Fiction-Genre verschrieben sei. In beiden Ländern wurde der Sound, trotz der unterschiedlichen Lesarten, als spezifisch »deutsch« charakterisiert.

Lukas Schaefer zeichnet im Teil »Sehen« die Verflechtungsgeschichte der bundesrepublikanischen Zeitschrift »Filmkritik« nach. Der Fokus auf die Zeitschrift und deren Akteure und Netzwerke bringt eine genuin europäische Transferperspektive ins Spiel. Die deutschen Journalisten waren vielfach ins west- und osteuropäische Ausland vernetzt und bezogen durch ihre Korrespondenz viele Anregungen. Vor allem das Feld der internationalen Filmfestivals kristallisiert sich als weiterführendes Forschungsfeld heraus.

In der Rubrik »Erleben« präsentiert Katharina Böhmer die Jugendkultur der Halbstarken in einer transnational-vergleichenden Perspektive. Ausgehend von der Schweiz werden Großbritannien und die Bundesrepublik miteinbezogen. Interessant daran ist, dass die Figur des Halbstarken, oder im britischen Fall des Teddy Boy, als internationales Phänomen wahrgenommen wurde, obwohl die länderspezifischen Kontexte sich durchaus unterschieden. Insgesamt ist das Kapitel zum »Erleben«, mit den eben genannten Halbstarken, einem Aufsatz zur Repräsentation jugendlicher Konsumkultur in Jugendzeitschriften und einem Beitrag zur transnationalen Dimension der britischen Mode am stärksten hervorzuheben, da hier Medien und/oder Akteure und die dazugehörigen Praktiken gut reflektiert werden.

Der letzte Abschnitt, »Mitreden«, setzt sich in zwei Aufsätzen mit den größeren Linien der Demokratisierung durch Populärkultur und Popmusik auseinander.

Der Band deckt ein breites Spektrum an Themen ab. Neben den bereits angesprochenen Aufsätzen finden sich noch Abhandlungen zu Comics, der »British Invasion«, Kulturtransfer im Kino und zum Fernsehprogrammhandel. Diese Spannweite ist ein großes Verdienst, da gerade der Mangel an empirischen Studien auch immer wieder in der Forschung betont wird. Die Periodisierung ist nach der Lektüre der Einleitung schlüssig: Die späten 1950er Jahre werden sonst oft unterschlagen und eine Engführung auf den sogenannten Strukturbruch Anfang der 1970er Jahre macht im popkulturellen Feld nur bedingt Sinn. Auch die Hinterfragung eines linearen »Wertewandels« ist durchaus angebracht und kann durch empirische Popgeschichte ergänzt und kritisiert werden.

Die Beiträge selbst fokussieren allerdings oft nur Teile der langen 1960er Jahre, wobei vorzugsweise vor allem die Phase bis Mitte der 1960er bearbeitet wird. Der Aufsatz von Simmeth beginnt dagegen erst in den 1970er Jahren. Somit kann die postulierte Periodisierung als Gesamtansatz des Bandes gelten, aber nicht für alle einzelnen Beiträge. Zusätzlich zu den beiden Längsschnittaufsätzen am Ende wäre eine Art Fazit noch zielführend gewesen, das alle Beiträge systematisch in die Periodisierung und den vorher genannten Paradigmen der Zeitgeschichtsforschung einordnet oder davon abgrenzt. Außerdem wäre eine Erklärung des Begriffs »Populärkultur« wünschenswert gewesen. Dieser wird ohne weitere Erklärung als gegeben gesetzt. Man könnte ebenso von Popkultur reden, um die Spezifika des Pop(ulären) nach 1945 nochmals dezidiert herauszustellen. Ein letzter Kritikpunkt besteht darin, dass im Band ein Teil der Bilder zu rein illustrativen Zwecken ohne Mehrwert für die Argumentation benutzt wird. Das ist verschenktes Potential, da gerade Populärkultur durch eine starke visuelle Dimension geprägt ist.

Die Kritik wiegt allerdings nicht schwer, da »Populärkultur transnational« empirisch gesättigte und facettenreiche Beiträge liefert und dabei zeigt, dass Detailarbeit ein schillerndes und differenziertes Bild von einer als uniform verschrienen Massenkultur hervorbringt. Dabei räumt der Band auch mit vorschnellen Annahmen über Populärkultur auf und illustriert einen Weg, dieses Feld der Zeitgeschichte zu erkunden. An diesem Band wird man zukünftig nicht vorbeikommen, wenn man sich mit Pop(ulär)kultur in zeithistorischer Perspektive beschäftigen will.

1 Lukas Schaefer, Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben in (west-)europäischen Nachkriegsgesellschaften der langen 1960er Jahre, in: H-Soz-Kult, 5.3.2014, https://www.hsozkult.de/event/id/termine-24306, zuletzt abgerufen 4.9.2018.
2 Vgl. Jürgen Dierkes, Dietmar Hüser, Birgit Metzger, Lukas Schaefer, Tagungsbericht: Populärkultur transnational – Lesen, Hören, Sehen, Erleben in (west-)europäischen Nachkriegsgesellschaften der langen 1960er-Jahre, in: H-Soz-Kult, 22.11.2014, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5690, zuletzt abgerufen 4.9.2018.
3 Vgl. Arthur Marwick, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, Oxford 1998.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Karl Siebengartner , Rezension von/compte rendu de: Dietmar Hüser (Hg.), Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld (transcript) 2017, 356 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8394-3133-7, EUR 34,99., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57517