Der Zweite Weltkrieg will nicht enden, schon gar nicht in der Literatur. Diverse jüngere Romane nehmen ihren Ausgang im letzten Kriegsjahr, um das Davor und das Danach zu erkunden. Arno Geigers »Unter der Drachenwand« (2018) zählt ebenso dazu wie Uwe Timms »Ikarien« (2017) oder Ralf Rothmanns «Der Gott jenes Sommers« (2018). Auch auf dem französischen Buchmarkt war zuletzt am Zweiten Weltkrieg kein Vorbeikommen. 2017 wurden gleich zwei dezidiert historische Romane mit den beiden wichtigsten Buchpreisen ausgezeichnet: Der Prix Goncourt ging an Éric Vuillards »L’ordre du jour«, den Prix Renaudot erhielt Olivier Guez für »La Disparition de Josef Mengele«, und angesichts der Thematik haben die deutschen Übersetzungen nicht lange auf sich warten lassen.
Beide Romane (auch wenn »L’ordre du jour« als récit, als Bericht, firmiert) sind gewissermaßen literarische Dokudramen, in denen historische Tatsachen mit den Freiheiten des reenactment einhergehen. Es ist schwerlich ein Zufall, dass beide Verfasser mit jeweils einem Bein im Filmgeschäft stehen, als Drehbuchautoren – Guez erlangte vor drei Jahren größere Bekanntheit durch sein Skript für »Der Staat gegen Fritz Bauer« – und im Falle Vuillards auch als Regisseur.
Nicht nur dem Gegenstand und der methodischen Recherche, auch der durch szenische Schilderungen gekennzeichneten Sprache merkt man die Verwandtschaft zu Bühne und Filmstudio an. Beide Autoren spielen offen damit, Guez in seinen Querverweisen auf Bauer und Adolf Eichmann, Vuillard, wenn dieser sein Stück damit eröffnet, den Vorhang trotz des Signals des Inspizienten nicht aufzuziehen: »Le régisseur a frappé trois coups mais le rideau ne s’est pas levé.«
Aus dem Nebel auftauchend nimmt dann, allmählich, jenes handelnde Personal Gestalt an, das die Tagesordnung Vuillards bestimmen wird. In der Rahmenhandlung 1933/1944 sind dies die Teilnehmer jener berüchtigten Versammlung vom 20. Februar 1933, auf der eine Auswahl der bekanntesten deutschen Unternehmer von Hitler, Göring und Schacht über die diktatorischen Ziele des gerade installierten NS-Regimes in Kenntnis gesetzt wurde, um umgehend die klammen Kassen der NSDAP zu füllen. Angeführt vom Präsidenten des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Gustav Krupp zu Bohlen und Halbach, dessen Portrait auch das Cover schmückt, stehen die Namen der 24 Teilnehmer – zwei Dutzend Jünger, die Vuillard als »le clergé de la grande industrie« bezeichnet – vor allem für Kontinuität bis in unsere Tage, mittels Produkten, Marken, Unternehmen: »Ils sont là, partout, sous forme de choses. Notre quotidien est le leur.«
Krupp begegnet der Leser bzw. die Leserin am Ende wieder, ein Jahr vor Kriegsende, bereits von der Demenz gezeichnet, das Ende des Tausendjährigen Reiches vor Augen. Dazwischen jedoch widmet sich der Roman beinahe ausschließlich dem Jahr 1938 und hier vor allem dem »Anschluss«. Vuillard erscheint es als Schicksalsjahr, als letzte, versäumte Möglichkeit, das Entsetzen von Weltkrieg und Völkermord zu verhindern. Die Fehlurteile der Halifax und Lebrun, Daladier und Chamberlain skizziert er mit scharfen, oft lächerlichen Episoden, die österreichische Farce erhält ein doppeltes Gesicht im bekannten Schmierentheater, das mit und für Schuschnigg in Berchtesgaden aufgeführt wird, fast mehr noch aber im von Pannen geprägten Einmarsch der Wehrmacht: unvermeidlich, gar unaufhaltsam scheint hier nichts, und Vuillards bittere Marx-Paraphrase am Ende fängt das Versagen ein: »On ne tombe jamais deux fois dans le même abîme mais on tombe toujours de la même manière, dans un mélange de ridicule et d’effroi.«
Auch Josef Mengele sehen wir beim Fallen zu, und Guez’ Roman liefert gleichermaßen faktische Chronik wie fiktive Introspektion. Die Erzählung setzt 1948 ein, als der untergetauchte KZ-Arzt per Rattenlinie in Buenos Aires ankommt. In Rückblenden werden Mengeles Verbrechen – die Selektion an der Auschwitzer Rampe, die Menschenversuche und Morde als Lagerarzt – knapp geschildert, doch die eigentliche Handlung spielt sich in den 30 Jahren zwischen Flucht und Tod ab.
Präzise folgt der Autor den Lebensstationen seines Protagonisten: die erfolgreiche Integration als »Helmut Gregor« in Juan Peróns Argentinien, der Aufbau einer sogenannten bürgerlichen Existenz, Wohlstand und Sicherheit, die der Massenmörder dank Unterstützung auf beiden Seiten des Atlantiks findet. Guez betont die Netzwerke, die Mengeles zweite Karriere erst möglich machen – im heimischen Günzburg ebenso wie in Buenos Aires, wo sich die Nazi-Größen ein Stelldichein geben. Alle sind sie da: Hans-Ulrich Rudel und Eberhard Fritsch, Willem Sassen und Adolf Eichmann.
Im mehrdeutigen Buchtitel liegt eine der geschicktesten Volten von Guez’ Erzählung. Denn in der ersten Hälfte des Romans verschwindet Mengele nicht, sondern taucht im Gegenteil wieder auf: nicht nur im fernen Südamerika, sondern mit zunehmender Selbstsicherheit auch wieder in der Alten Welt. Tatsächlich wird Helmut Gregor erst wieder Josef Mengele, als die Suche nach ihm ernsthaft beginnt. Zu Beginn der 1960er Jahre – dank Fritz Bauers Rolle bei der Eichmann-Entführung und den Vorbereitungen für den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess – richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf den tot geglaubten KZ-Arzt, der Mossad beginnt nach ihm zu suchen, Journalisten wollen bald Spuren an diversen Orten gefunden haben.
Mengele muss erneut untertauchen, und in diesem Moment beginnt seine Höllenfahrt, die ihn – nicht umsonst führt Dantes »Göttliche Komödie« die Literaturliste an – in konzentrischen Kreisen immer näher an den Abgrund treibt. Jede Station wird bizarrer, an jedem neuen Ort leidet der Täter mehr und wird im Zuge seiner langgezogenen Flucht über Paraguay und Brasilien tatsächlich verschwinden. Seines angenehmen argentinischen Alltages beraubt, mit immer geringeren Kontakten zu immer weniger Unterstützern, verliert Mengele die Façon, wird räumlich wie sozial isoliert, und seinen Tod bedauern weder die letzten Helfer vor Ort noch die Familie in Deutschland. Für Guez ist dies die Sühne Mengeles, die er in seiner biografischen Rekonstruktion als dunkle pikareske Reise erzählt.
Beide Romane sind penibel recherchiert, und wer Freude an der Fehlersuche hat, wird vermutlich enttäuscht werden. Vuillard und Guez wissen, worüber sie schreiben, und sie nehmen sich Freiheiten nur dort, wo historische Quellen schweigen. Die Frage nach der Korrektheit ist falsch gestellt, sofern es sich um das Innenleben der Protagonisten handelt; die Romane gehen eben dorthin, wohin ihnen Historikerinnen und Historiker nicht folgen können. Insbesondere in »La Disparition« verlangt dies dem Leser bzw. der Leserin einiges ab. Man muss Mengele beim Sex zusehen, das Leiden der Schlaganfälle ertragen und das schier grenzenlose Selbstmitleid hinnehmen. Das macht nicht immer Spaß, ist aber sprachlich so glänzend umgesetzt, dass man es erträgt.
In der Übersetzung ist dies bei beiden Bänden vor allem Nicola Denis zu verdanken, die schon frühere Titel Vuillards ins Deutsche übertragen hat. Auch deswegen ist »Die Tagesordnung« fabelhaft gelungen, die Reibungsverluste zwischen Original und Übersetzung scheinen dem Laien gering. Und wo diese im Falle von Guez’ »Das Verschwinden des Josef Mengele« gelegentlich auftauchen, spiegelt sich darin vielleicht auch nur die Vulgarität des Protagonisten, die sich auf Französisch besser erdulden lässt als in der eigenen Muttersprache.
Allein die Verlagswerbung vermag der Souveränität der Übersetzung nicht zu folgen. »L’ordre du jour« kommt bei Actes Sud ganz ohne Leserwarnung aus und ohne Erklärung, wer auf dem Einband abgebildet ist; das muss man schon selbst herausbekommen. Vuillards deutscher Verlag Matthes + Seitz vertraut seinem Publikum da weniger und erklärt nicht allein, wen, sondern auch was man zu erwarten habe: ein »Blick in die Hinterzimmer der Macht […], wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird – damals und immer wieder«.
Das schmeckt mehr nach Aufarbeitung denn nach Kunst. Nicht anders der Aufbau-Verlag, der seinem Leser auf dem Buchrücken einbläut, wie er Mengele zu sehen hat: als »Inkarnation des Bösen« und »fanatische Bestie«, deren Strafverfolgung »kläglich scheiterte«. Die bei Grasset noch avisierte »odyssée grotesque« wird zum »Politthriller« und »Tatsachenroman«. Im Film hieße das »nach einer wahren Geschichte«. Französische Verlagshäuser, so will es scheinen, bewältigen deutsche Vergangenheit dann doch etwas eleganter.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Kim Christian Priemel, Rezension von/compte rendu de: Olivier Guez, La Disparition de Josef Mengele, Paris (Grasset) 2018, 240 p., ISBN 978-2-246-85587-3, EUR 18,50; Olivier Guez, Das Verschwinden des Josef Mengele. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Berlin, Weimar (Aufbau Verlag) 2018, 224 S., ISBN 978-3-351-03728-4, EUR 20,00; Éric Vuillard, L’ordre du jour. Récit, Arles (Actes Sud) 2017, 160 p. (un endroit où aller), ISBN 978-2-330-07897-3, EUR 16,00; Éric Vuillard, Die Tagesordnung. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Berlin (Matthes + Seitz Verlag) 2018, 2018 p., ISBN 978-3-95757-576-0, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2018/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.4.57559