Diese mikrohistorische Studie versucht erfolgreich, die Wahlen in der Stadtrepublik Genf um 1700 nicht als Etappe einer teleologischen Demokratiegeschichte darzustellen, sondern mit anthropologisch geschärfter Verfremdungsperspektive als unerklärliches Geschehen zu entziffern und zu deuten. Dazu werden die Wahlen der wichtigsten Amtsträger von 1679 bis 1707 minutiös recherchiert, wobei das komplizierte Prozedere an sich und seine rituelle Rahmung fast mehr interessieren, als die konkreten Wahlergebnisse.

Zwischen Einleitung und Schluss gliedert sich das Buch in fünf Kapitel – Repräsentation und Souveränität, Volkswahlen, Wahlzeremoniell, Wahltechniken, Wahlkabalen –, die sich allerdings mehrfach überschneiden. Das Besondere am Fall Genf besteht darin, dass sich der conseil général (die Generalversammlung aller erwachsenen Männer mit Bürgerrecht) die Wahl der vier syndics (Bürgermeister), des trésorier général (Säckelmeister), des lieutenant général (Hauptmann) sowie des procureur général (Untersuchungsrichter) und der sechs auditeurs (Beisitzer) bewahren konnte. Die konsequent historisierende Perspektive der Untersuchung zeigt allerdings klar, dass »Wahl« (élection) um 1700 nicht dasselbe bedeutet wie heute. Denn der conseil général konnte nur aus einer Anzahl Kandidaten, die der petit conseil (28 Mitglieder) aus dem Kreis des grand conseil (Rat der 200) vorgeschlagen und der Große Rat bestätigt hatte, die Hälfte »zurückbehalten«. Da auch die Mitglieder des Großen Rates vom Kleinen Rat bestellt wurden, hatte die Generalversammlung keinen Einfluss auf die Rekrutierung der Kandidaten.

Die Wahlresultate im Untersuchungszeitraum waren dementsprechend. Die vier syndics wurden für ein Jahr gewählt und mussten dann drei Jahre im Kleinen Rat warten, bis sie wieder als syndic gewählt werden konnten. In den 29 Jahren von 1679 bis 1707 wurden je vier, also 116 syndics gewählt, davon waren 95 Wiederwahlen en bloc aller vier Ehemaligen unter den acht Nominierten. In 21 Fällen war ein Posten neu zu besetzen, meist wegen Todesfall. Dabei erkor der conseil général 13 Mal den vom Kleinen Rat an vierter Stelle Nominierten, acht Mal wählte er den Fünft- bis Achtplatzierten aus. Barat charakterisiert diese Ergebnisse mit Jérôme Sautier als »hommage collectif« (S. 144) des Elektorats an die Mandatsträger. Denn diese entstammten den wenigen großen Magistratenfamilien der Staat, welche die Stellen der syndics und im Kleinen Rat dank des Kooptationsverfahrens unter sich aufteilten. Sie verstanden sich als qualifizierte Elite, die in gutväterlicher Absicht für ihre Stadt sorgten. Drei Viertel der Kleinräte hatten studiert, die übrigen waren erfolgreiche Kaufleute oder Militärs, die Hälfte Juristen (S. 49).

Diese aristokratische Rekrutierungspraxis stand im Widerspruch zum demokratischen Selbstverständnis der Stadt. Denn in den heftigen Auseinandersetzungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts teilten Ratselite und normale Bürger überraschenderweise die Meinung, dass die Souveränität beim conseil général liege, was sich eben in den Wahlen zeige (S. 42–48). Die Opposition verlangte denn auch nicht in erster Linie demokratischere Wahlen – sie postulierte die Selbstergänzung des Großen Rats, nicht die Volkswahl desselben –, sondern direkt-demokratische Mitwirkung in Fundamentalangelegenheiten – Gesetzgebung, Steuern, Krieg und Friede –, die als eigentliche Merkmale der Souveränität galten (S. 53–82). Der Rat dagegen sah sich als »intrinsischer« Repräsentant des souveränen conseil général.

Im Zuge dieser Konflikte geriet auch das Wahlverfahren in die Kritik. Dieses war rituell eingebunden in das Selbstverständnis der Eliten der Calvinstadt. Am ersten Sonntag im Januar versammelten nach der Predigt die Mitglieder des conseil général (die rund 1200 bis 1400 Männer mit Bürgerrecht in der Stadtbevölkerung von 16 000 Personen) in der Kirche St. Pierre. Nach dem Gebet, einer Ermahnung durch den Pastor und einer Ansprache des ersten syndic, wurde das Wahledikt verlesen und der Wahleid geleistet. Nach der Schließung der Tore wurden die Namen der für die syndic-Stellen Nominierten verkündet. Dann schritten die Bürger nach ihrem Rang – Kleinräte, Pastoren, Großräte, normale Bürger – einzeln nach vorn, legten unter den Augen der syndics den Wahleid auf die Bibel ab und nannten einem der drei Sekretäre vier Namen aus den acht Nominierten. Die Sekretäre notierten diese Namen, die syndics zählten die Stimmen aus und gaben sofort die Gewählten bekannt. Diese leisteten den Amtseid und erhielten von ihren Amtsvorgängern den Amtsstab. Nach dem Schlussgebet wurden die Tore geöffnet und die syndics zogen mit dem Kleinen Rat zum Festmahl ins Rathaus (S. 192–214).

Die Kritik am Wahlprozedere richtete sich vor allem gegen das Flüstern des Namens ins Ohr eines Sekretärs (vote auriculaire). Viele Bürger wagten es offenbar nicht, andere als die vier erstrangierten Namen zu nennen. Auch wurde den Sekretären unterstellt, sie hätten falsche Namen notiert, und den syndics, sie hätten nicht richtig gezählt. Den Haupthebel für ihre Kritik bezog die Opposition aber aus dem Wahleid, der sie verpflichtete, die »geeigneten« (idoines) Kandidaten zu wählen. Sie stellte sich nun auf den Standpunkt, dass sich unter den acht Nominierten keine geeigneten Anwärter befänden (S. 238–240).

Als Resultat dieser Auseinandersetzungen wurde 1707 die Wahl per Stimmzettel eingeführt. Um diesen unbehelligt von den Blicken der syndics und Räte ausfüllen zu können, stellte man zudem Stimmkabinen (isoloirs oder loges) auf – was als Weltneuheit für Wahlen in Volksversammlungen empfunden wurde (S. 299–306, 303). Damit fehlte zum heute verbreiteten Verständnis der geheimen Wahl (Australian ballott) nur noch der Briefumschlag für den Stimmzettel (S. 279, 409).

Wie in Venedig, Freiburg (Schweiz) und anderen Schweizer Kantonen experimentierte man auch in Genf von 1691 bis 1738 mit Elementen des Losentscheides, der als Verfahrensschritt kombiniert wurde mit Nominationen und Wahlen, um Wahlbeeinflussung durch Korruption zu verhindern (S. 302–306)1. Denn Wahlkabalen (brigues) waren ein Dauerthema. Aufgrund von Prozessakten zur Erneuerung der syndics 1694 wird deutlich, dass die – verbotene – Wahlwerbung mittels Empfehlungen, Geldzahlung sowie Essenseinladungen und Versprechungen so »normal« waren, dass sich dafür relativ fixe Tarife und Vorgehensweisen etablierten. Trotzdem scheint das Problem nicht so groß gewesen zu sein, wie es die moralisierenden Predigten der Pastoren vermuten ließen (S. 346–403).

Die an der Universität Lyon entstandene und von Olivier Christin betreute thèse (Dissertation) bietet eine Fülle von Einblicken in das Funktionieren der Wahlen in einer frühneuzeitlichen Stadtrepublik. Akribisch werden Details der Abläufe rekonstruiert, Sozialprofile der Prätendenten erstellt, familiäre Verquickungen aufgeigt (dank der Vorarbeiten von G. Favet, O. und N. Fatio, A. Pronini, J. Sautier, A. Zambrella u. a.) und institutionelle, soziale und ökonomische Kontexte auch mit vielen Tabellen und Schaubildern dargestellt. Dabei wehrt sich der Autor standhaft gegen eine teleologische Vereinnahmung des Falles für eine Entwicklungsgeschichte der Demokratie.

Allerdings ist die Studie sehr sperrig organisiert. Die Gliederung springt chronologisch hin und her und wechselt zudem auch zwischen zwei Untersuchungstiefen (Grobanalyse 1640–1740 bzw. Feinanalyse 1679–1707), was zu Wiederholungen derselben Zitate und Formulierungen führt und die Übersicht erschwert. Das Inhaltsverzeichnis nennt die zwei untersten Ebenen der Gliederung nicht und bildet dadurch den Gang der Untersuchung nur mangelhaft ab. Die Indices sind bescheiden, lückenhaft und intransparent in ihrer Auswahl.

Die methodisch behutsame Präsentation der Ergebnisse (z. B. S. 16–24, 57, 160–163) verzichtet auf eine Einbettung in breitere Forschungsdiskussionen etwa zur Bedeutung von Ritualen in der Politik2 oder zur Brauchbarkeit von Konzepten wie »Klientelismus«, »Patronage« oder »Korruption« zur Analyse von Wahlen und Kabalen3.

1 Vgl. dazu jetzt Antoine Chollet, Alexandre Fontaine (Hg.), Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe (XVIe–XXIe siècles)/Erfahrungen des Losverfahrens in der Schweiz und in Europa (16.–21. Jahrhundert), Bern 2018.
2 Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert), Köln 2003; Rudolf Schlögl, Urban Elections and Decision-Making in Early Modern Europe 1500–1800, Newcastle upon Tyne 2009; Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M., New York 2013; dies., Cultures of Decision-Making, London 2016.
3 Zuletzt: Kaspar von Greyerz, André Holenstein, Andreas Würgler (Hg.), Soldgeschäfte, Klientelismus, Korruption in der Frühen Neuzeit, Zum Soldunternehmertum der Familie Zurlauben im schweizerischen und europäischen Kontext, Göttingen 2018.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andreas Würgler, Rezension von/compte rendu de: Raphaël Barat, »Les élections que fait le peuple«. République de Genève, vers 1680–1707, Genève (Librairie Droz) 2018, 448 p., 18 fig., 16 tabl. en n/b (Bibliothèque des Lumières, 92), ISBN 978-2-600-05813-1, CHF 42,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59797