Während Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts zuerst mit dem Siegeszug der Vernunft, der Diskussion um Toleranz und dem Kampf gegen Vorurteile in Verbindung gebracht wird, vollzieht sich parallel die Entwicklung der Ästhetik im Zeichen der Ablösung der Nachahmungs- durch die Genieästhetik mit einer Aufwertung der Imagination. Die vorliegende Darstellung des zentralen Problemfeldes der Auseinandersetzung um die Imagination in Frankreich zwischen 1675 und 1810 in philosophischer, ästhetischer und anthropologischer Perspektive erhellt ein Begriffs- und Problemfeld, das diese Veränderungen auf neue Weise einsichtig macht.

Im Sinne der Arbeit an einer historischen Semantik haben die Autoren und Herausgeber ein vielschichtiges Werk vorgelegt, dass neben einer substanziellen Einleitungsstudie (R. Behrens u. J. Steigerwald) 26 Fallstudien vereint, die jeweils aus der Analyse der Position eines Autors oder Werks und der auszugsweisen Dokumentation der zentralen Textpassagen zum Problemfeld der Imagination besteht. Die chronologische Anordnung der Fallstudien legt es nahe, die Anthologie der nach den französischen Originalen wiedergegebenen Texte als Nachschlagewerk und zur Entdeckung von wenig bekannten sowie zur Wiederentdeckung bekannter Texte und Autoren zu nutzen. Als forschungsgeschichtlicher Hintergrund sind neben der Diskussion um Literatur und anthropologisches Denken im 18. Jahrhundert insbesondere seit dem DFG-Symposion von 19921 auch die Begriffsgeschichte mit den »Ästhetischen Grundbegriffen«2 und die Studien zur historischen Semantik sowie die in unterschiedlichen Lexika ablesbare Tendenz zur Neudefinition zentraler Stichworte der Aufklärung in Deutschland und Frankreich anzusehen.

Der »perspektivierende Aufriss« der Herausgeber, »Französische Imaginationstheorien des 18. Jahrhunderts in kultur- und ideengeschichtlicher Sicht«, spannt ein Forschungsfeld auf, das in einem weiteren Sinne auf die Auseinandersetzungen um die »menschliche Fähigkeit zum Modellieren eines Imaginären« (S. 1) orientiert ist und die Vermögen bzw. Produkte von Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft mit Phantasie und Imagination zum Gegenstand hat. Bei der gegensätzlichen Bewertung dieser Vermögen in den Denksystemen des französischen 18. Jahrhunderts, zwischen »rationalistischer Abwehr« und »emphatischer Positivierung« (S. 1) gehe es immer wieder um die »faktische Sprengkraft eines imaginativen Denkens und Kommunizierens in Bildern« (ibid.).

Um die Vielfalt der beteiligten Disziplinen bzw. angesprochenen Diskurse zu erfassen, nutzen die Herausgeber den Begriff der »Imagination« »als terminologischen Schnitt- und Referenzpunkt unterschiedlicher Konfigurierungen eines sich wandelnden Imaginären« (S. 2). Sie sehen in ihm sogar »eine Scharnierstelle aufklärerischer Reflexion über den Menschen überhaupt« (ibid.). Das bildet sich in den Einzelanalysen durch die Linie der medizinisch-physiologisch argumentierenden Texte deutlich ab, ist aber auch Bezugshorizont für erkenntnistheoretisch, theologisch oder ästhetisch reflektierende Texte. Neben der methodischen Hinführung entwirft die Einleitungsstudie eine Skizze der Ausgangssituation für die Konzeptualisierungen von Imagination in Frankreich im 18. Jahrhundert.

Für den ersten Auswahlschwerpunkt, in dem das Leib-Seele-Verhältnis bzw. die Verortung sinnlicher Erkenntnis zentral ist, liegt der wirkmächtige Ausgangspunkt in Malebranches »Recherches de la vérité«, bevor mit Condillac die Entfaltung des sensualistischen Paradigmas bestimmend wird. Weitere Stationen, die von den Herausgebern dieser ersten Linie »markanter Theoriebildungen« zugeordnet werden, sind La Mettrie (mit der Analyse von Johannes Klingen-Protti) und Diderot, sowie Buffon und Cabanis (dargestellt von den Herausgebern).

Eine zweite Linie von für eine positive Betrachtung der Imagination wichtigen Theorien zeichnen die Herausgeber ausgehend von der Physikotheologie (Fénélon, Pluche – dargestellt in Analysen von Andreas Gipper) mit ihrer Betonung der Rolle der Imagination für die sinnliche Gottes- und Welterkenntnis. Auf der Ebene einer solchermaßen »welterschließenden Funktion« (S. 15) der Imagination folgen Morellys (in einer konzisen Analyse von Christophe Losfeld) und Rousseaus Theorieentwürfe. Die zwiespältige, Entfremdung fördernde und mindernde Rolle der Imagination, sowie die visionäre Dimension, in der Rousseau-Analyse von Roland Galle ausgedeutet, wird von den Herausgebern als »eminent kulturprägende Kraft« (S. 17) hervorgehoben.

Grundlegende Veränderungen der Reflexion, mit einer Physiologisierung des Imaginationsvermögens bei den idéologues (Cabanis) und einer vielleicht in der Tendenz als Psychologisierung bei Meister, Bonstetten und Maine de Biran zu bezeichnenden Entwicklung, erscheinen als eine Art dritter Linie und Abschlussphase des veränderten Nachdenkens über Vermögen und Funktion der Imagination im Zeichen einer neuen »sensibilité«.

Konzeptionell unter die zweite Auswahlrubrik »Anthropologische Menschenbeobachtung, Poetik und Medizin« stellen die Herausgeber vor allem Annäherungen an die Funktionen bzw. Dysfunktionen der Imagination, die von der Kritik an Aberglauben, Schwärmerei u. ä. bis zur Frage nach dem Einfluss der Imagination bei Schwangeren auf Missbildungen des Fötus oder die »Nymphomanie« reichen. Medizinische und »volksaufklärerische« Traktate, deren Hintergrund mechanistische und später vitalistische Auffassungen sind, reichen bis zu Überlegungen, die durch die Physiognomik (z. B. bei Pernety, in der Analyse von Barbara Storck) beeinflusst sind. Die ästhetischen und poetologischen Implikationen einer Aufwertung des Imaginationsbegriffs (über Enthusiasmus-, Energie-, Genie-Konzepte) scheinen enger an die erkenntnistheoretischen und welterschließenden Funktionen von Imagination anzuknüpfen als es bei den medizinischen Texten zu beobachten ist. Zu erwähnen sind neben dem bereits genannten Beitrag zu Rousseau vor allem die Analysen zur »Encyclopédie« und zu Diderot. Voltaires heterogener »Encyclopédie«-Artikel »Imagination« liefert eine sensualistische Begriffsbeschreibung und einen davon abgehobenen poetologischen Entwurf, während Marmontels Artikel im »Supplément« vom künstlerischen Schaffen und der Kritik handelt. Die eigentlich zu erwartende Definition der Imagination finde sich in dem Turgot zugeschriebenen Artikel »Etymologie« und wird vom Autor der Analyse (Jörn Steigerwald) zusätzlich wiedergegeben. Zentral ist aber natürlich der Diderot gewidmete Beitrag (Rudolf Behrens), vermag er doch die Analyse der Denk- und Schreibstrategie Diderots mit den verschiedenen inhaltlichen Erprobungen der Möglichkeiten der Imagination zu verbinden, die in der Betrachtung der »Promenade de Vernet« und des »Rêve de D’Alembert« kulminieren.

Die in der Auswahl der Autoren und Texte insgesamt zu beobachtende starke Ausdifferenzierung der Bestimmungen des Vermögens der Imagination, ihrer Funktionen und Wirkungen belegt ihre hohe Präsenz im Nachdenken über die Natur des Menschen, sein Verhältnis zu sich und zur Gesellschaft. Obgleich der Schwerpunkt der Darstellung klar auf der französischen Diskussion bis zur Herausbildung der science de l’homme liegt, sind über die Entfaltung der Problemstellung in der Einleitung europäische Einflüsse präsent.

Die Textauswahl geht über den engen französischen Rahmen hinaus, indem eine französische Version der »Psychologie« von Christian Wolff aufgenommen ist und indem mit Charles Bonnet, Jakob Heinrich Meister und Karl Viktor Bonstetten (in Analysen von Johannes Klingen-Protti und Rudolf Behrens) wichtige Schweizer Vertreter frühen psychologischen Denkens präsent sind. Die Berliner Akademie der Wissenschaften wird über Bezugnahmen des Autors der »Physique de l’âme humaine«, Guillaume Lambert Godart, adressiert3. Die in den Analysen vor allem der unbekannteren Texte dieses gewichtigen Bandes vorgenommene kulturgeschichtlich-diskursive Einordnung illustriert Ungleichzeitigkeiten der Diskussion und der intertextuellen Bezugnahmen, die es sich lohnte in weiteren Einzelstudien zu erhellen.

1 Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart, Weimar 1994.
2 Karlheinz Barck u. a.. Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000–2005.
3 Er sendet sein Werk an den Berliner Akademiesekretär Formey mit der Bemerkung: »Reduit dans une petite ville d’un pays ou les theologiens ne donnent pas trop la liberté d’ecrire ce que l’on pense, j’ai eté obligé d’emprunter le nom de votre ville.« Vervier, 6 avril 1755, NL Formey, Staatsbibliothek zu Berlin PK.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jens Häseler, Rezension von/compte rendu de: Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.), Aufklärung und Imagination in Frankreich (1675–1810). Anthologie und Analyse, Berlin, New York (De Gruyter) 2016, 660 S. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 54), ISBN 978-3-11-044608-1, EUR 139,95., in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59800