Das vorliegende Sammelwerk beruht auf einer Freiburger Tagung, die vom 11. bis 13. Juli 2013 unter dem Titel »Alemannisches Recht und alltägliches Leben. Das frühe Mittelalter im interdisziplinären Gespräch« stattfand. Ziel des Tagungsbandes ist es, eine »aktuelle Bestandsaufnahme« für die die Mediävistik schon lange beschäftigenden alemannischen Rechtstexte (»Pactus Alamannorum« und »Lex Alamannorum«) vorzulegen (S. 1). Dies ist insofern gerechtfertigt, als die mit diesen Quellen verbundenen Fragen nach wie vor von hoher Relevanz für die Forschung sind und viele ganz grundlegende Aspekte noch einer Klärung bedürfen. Es steht außer Frage, dass in diesem Kontext weitere Erkenntnisse nur durch einen interdisziplinären Ansatz erreicht werden können.
Dementsprechend sind hier – wie der Untertitel bereits verdeutlicht – rechtshistorische, archäologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge versammelt, wobei man noch die Sprachgeschichte ergänzen dürfte. In der Gliederung des Buches selbst wird dabei keine Trennung zwischen den einzelnen Disziplinen vorgenommen, vielmehr folgt der Aufbau thematischen Gesichtspunkten: I Archäologie und Geschichte (S. 7–86), II Recht und Sprache (S. 87–209), III Habitus und Bestattungen (S. 211–255), IV Siedlung und Wirtschaft (S. 257–306), V Kirche und Glaube (S. 307–345). Die Beiträge sind damit beinahe so vielfältig wie die alemannischen Rechtstexte selbst. Man vermisst allerdings doch den Punkt »Herrschaft«, der – in Form des Herzogs – einen ganz zentralen Stellenwert für die »Lex Alamannorum« und ihre Deutung einnimmt.
Im 1. Teil stecken die Beiträge von Heiko Steuer (S. 9–60) und Dieter Geuenich (S. 61–86) den Rahmen ab, in dem sich die folgenden Aufsätze bewegen. Wichtig ist dabei insbesondere die Feststellung, dass sich die frühmittelalterliche Alamannia keineswegs so klar abgrenzen lässt, wie man das in der älteren Forschung teilweise noch annahm. Gleichzeitig stellen sich die verschiedenen Definitionen – archäologisch, historisch und sprachgeschichtlich – nicht vollständig deckungsgleich dar. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage, was denn eigentlich alemannisch am alemannischen Recht sei, umso größere Bedeutung.
Der 2. Teil des Buches widmet sich »Pactus« und »Lex Alamannorum« aus rechts- und sprachgeschichtlicher Sicht (S. 89–209). Während Eva Schumann in einem Überblicksaufsatz das Phänomen der Leges insgesamt beleuchtet (S. 89–138), widmet sich Wolfgang Haubrichs speziell dem volkssprachlichen Vokabular der »Lex Alamannorum« (S. 169–209). Wie bereits erwähnt, sind bei der »Lex Alamannorum« (wie auch bei anderen Leges) ganz fundamentale Fragen noch offen. Besonders prominent ist diejenige nach Urheberschaft und Authentizität des Textes, welche für jede Interpretation zentral sein muss. Hier folgen im Tagungsband zwei konträre Aufsätze aufeinander, was eine löbliche Erwähnung verdient.
Clausdieter Schott spricht sich gegen die Echtheit der »Lex Alamannorum« aus und hält sie – aufgrund der zentralen Position der Kirche in diesem Rechtstext – für eine Fälschung Reichenauer Mönche (S. 139–151). Das ganze Werk habe demnach nur der Wahrung kirchlicher Interessen gedient, die Herzogs- und Volkssachen dienten ausschließlich dazu, diese Absicht zu verschleiern (S. 150). Steffen Patzold setzt sich im unmittelbaren Anschluss mit Schotts Fälschungsthese auseinander und kann dabei eindrücklich nachweisen, dass keine zwingenden Argumente für eine solche Annahme existieren (S. 153–168). Die Herkunft von der Reichenau und der Fälschungscharakter lassen sich anhand der Quellen nicht sicher belegen (S. 167f.). Vielmehr gilt hier gewissermaßen die Unschuldsvermutung, was dann auch für die vielfach vergleichbare »Lex Baiuvariorum« gelten dürfte.
Während die Archäologie zum Thema Recht und Sprache weniger beitragen kann, bieten sich die folgenden drei Abschnitte zur Alltagskultur zweifelsohne für einen Vergleich der historischen und archäologischen Überlieferung geradezu an (S. 211–345). Dieser kann durchaus als gelungen bezeichnet werden, nicht zuletzt in methodischer Hinsicht. So wird wiederholt auf die Aussagemöglichkeiten der jeweiligen Quellenart verwiesen und darauf, dass sich Schrift- und Sachquellen nicht ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Ein solches Vorgehen ist sehr zu begrüßen, da in älteren Darstellungen oft zu leichtfertig historische Erkenntnisse beispielsweise zur Sozialstruktur auf die Grabungsbefunde übertragen wurden.
Insgesamt kommt der Publikation das Verdienst zu, einen interdisziplinären Ansatz gewählt und diesen methodisch konsequent verfolgt zu haben. Auch die Frage nach der Echtheit der »Lex Alamannorum« kann (vorerst?) als geklärt gelten, da sich die Fälschungsthese Schotts quellenkritisch nicht aufrechthalten lässt. Nachdem die Kategorie »germanisch« in den letzten Jahren mehr und mehr problematisiert wurde, darf man gespannt sein, wie diesbezüglich die zukünftige Entwicklung im Bereich der einzelnen gentes und ihrer leges aussieht. Die Definitionsproblematik der Begriffe »Alemannien«, »alemannisch« etc. hat der vorliegende Band für das Frühmittelalter eindrücklich vor Augen geführt und regt damit zur weiteren Diskussion an.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephan Ridder, Rezension von/compte rendu de: Sebastian Brather (Hg.), Recht und Kultur im frühmittelalterlichen Alemannien. Rechtsgeschichte, Archäologie und Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, München (De Gruyter Oldenbourg) 2017, I–VI u. 371 S. (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände, 102), ISBN 978-3-11-045943-2, EUR 109,95., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59810