Das neue Werk des renommierten britischen Marinehistorikers Andrew Lambert verdient besondere Aufmerksamkeit, die über eine rein fachliche Beurteilung seiner historischen Thesen hinausweisen muss. Grund hierfür ist, dass Lambert seiner Leserschaft nicht nur eine universalgeschichtliche Betrachtung von »Seemacht«/»Seapower« seit der Antike, sondern auch eine politische Analyse der Gegenwart und sogar Empfehlungen für die Zukunft bieten will. Dabei überschreitet er die Grenzen einer historischen Darstellung im engeren Sinne und bezieht Stellung gegen die Europäische Union und für eine Rückbesinnung Englands auf eine frühere Identität als Seapower.
Um Lamberts Position und Botschaft zu verstehen ist zunächst ein Blick auf seine Definition von »seapower« unumgänglich, wobei das Wort im Folgenden auf Englisch gehalten ist, um die Besonderheit seiner Auslegung zu unterstreichen. Lambert versteht darunter Staaten, die nicht nur über herausragende maritime Machtmittel verfügen, sondern deren Bewohner auch bewusst eine maritime kulturelle Identität kreieren und pflegen. Die Konsequenz seiner Definition ist einerseits, dass Länder trotz einer dezidiert maritimen Kultur keine Seapower sind, wenn ihnen reale militärische Seapower fehlt, und andererseits, dass Länder trotz einer mächtigen Marine keine Seapower sind, solange ihnen die entsprechende kulturelle Identität fehlt. Lambert selbst bezeichnet dies mehrfach als wesentliche Erweiterung bisher zu enger und irreführender Konzepte, wobei er sich insbesondere auf Marinehistoriker des 19. Jahrhunderts bezieht.
Aufgrund seiner Definition identifiziert Lambert in der gesamten Weltgeschichte nur Athen, Karthago, Venedig, die Niederlande (nur für 20 Jahre!) und schließlich England als Seapowers. Jedem dieser Länder widmet er ein Kapitel seines Werkes.
In einer Einleitung und einem Kapitel zur Vorgeschichte (S. 1–44) definiert Lambert die Eigenschaften von Seapowers näher aus, um sie dann in jedem folgenden Kapitel zu bestätigen und im Fazit sowie zuletzt noch in einer Merkliste zu wiederholen. Seine positive Voreingenommenheit ist dabei nicht zu übersehen. Seapowers seien niemals hegemonial und im Vergleich mit hegemonialen kontinentalen Mächten stets so schwach, dass ihre Kriegsführung universalhistorisch durch Allianzen, Begrenzung der Ziele, Vermeidung von Exzessen sowie Desinteresse an militärischem Ruhm und Entscheidungsschlachten geprägt sei. Seapowers besäßen immer politische Systeme, die ein für ihre Zeit hohes Maß an Partizipation ermöglichen und eine starke Opposition dulden. Daher seien auch alle Seapowers Republiken. Um diese Eigenschaft universalhistorisch zu bestätigen, stuft Lambert auch England von 1688 bis in die Gegenwart als Republik ein, wenn auch in Anführungszeichen (S. 211). Seapowers sichern und verbreiten außerdem freien Handel und erwirtschaften mehr Wohlstand, den die Regierung dank der partizipativen Strukturen konfliktfrei für den Ausbau einer Marine mobilisieren könne. Sie seien außerdem offen für neue Ideen und könnten partizipatorische Systeme exportieren. Als tendenziell negative Eigenschaften erwähnt Lambert in wenigen Worten eine Tendenz zur Bekämpfung von Konkurrenz und zur erzwungenen Öffnung von Märkten.
Athen beschreibt er als durch die langen Mauern zur künstlichen Insel geformte, prototypische Seapower. Die Bedrohung durch die hegemoniale Kontinentalmacht Persien habe zur Ausprägung einer militärischen und kulturellen Seemacht geführt, die im Seebund ihren Höhepunkt gefunden habe. Dabei deutet Lambert Athen und auch den Seebund als demokratisch und auf Demokratieexport ausgerichtet. Feinde des Seebundes seien Oligarchen und Sympathisanten der Perser gewesen. Demokratie und Athen gebraucht er dabei synonym, ohne die politische Struktur des Staates näher zu erläutern. Wie der Krieg gegen Persien, so ist für ihn auch der Peloponnesische Krieg Ausdruck eines universalhistorischen Gegensatzes von Landmächten und Seapowers, da Landmächte per se geistige Offenheit, partizipative Politik und freien Handel fürchten und bewusst bekämpfen.
Seinen Leitlinien bleibt Lambert auch im Kapitel über Karthago treu, gegen das Rom »the definitive total war« (S. 108) aufgrund des fundamentalen Gegensatzes zwischen hegemonialen Landmächten und Seapowers geführt habe. Rom sei dabei von der Angst vor kultureller Vielfalt und der »inclusive political culture« geprägt gewesen, die von Karthago ausgegangen sei. Daher sei der Kriegsgrund auch die Entscheidung zur »annihilation of an alternative culture« (S. 99) gewesen und habe nicht in der äußeren oder inneren Realpolitik Roms gelegen. Der Gegensatz beider Länder bleibt aber wie viele von Lamberts Thesen ein bloßes Postulat, da er ihre politischen Systeme nicht vergleicht.
Venedig stellt Lambert schließlich vor ein Problem, da es sich um die einzige katholische Seapower handelt und er in einem späteren Kapitel dezidiert darlegt, dass Katholizismus seiner Ansicht nach einer freiheitlichen kulturellen Identität entgegenstehe. Daher führt er aus, dass Venedig sich schon im Mittelalter trotz seines Katholizismus aus dem engeren System der römischen Kirche gelöst habe (S. 112). Das politische System deutet er ganz nach seiner Definition sehr positiv und als »inclusive«. Die Osmanen werden so zum neuen Persien, bzw. Rom, und Venedig zum neuen Athen, bzw. Karthago. Neu ist, dass Lambert ausführlich einen schleichenden Untergang beschreibt, den er auf die Aufweichung der kulturellen Identität und eine steigende politische und militärische Fokussierung auf das Festland zurückführt.
Die Niederlande erkennt Lambert nur für die Jahre 1653–1672 als wirkliche Seapower an, denn nur in dieser Zeit sei dort eine maritime kulturelle Identität wirklich prägend gewesen. Diese kurze Blüte sei darüber hinaus nur durch die Rivalität mit England zu erklären. Außerhalb jener kurzen Zeitspanne habe Seapower nur eines von zwei Angeboten zur Identitätsfindung in den Niederlanden dargestellt, die laut Lambert miteinander rivalisierten. Er kontrastiert hier ein partizipativ-freiheitlich maritimes System der großen Seestädte und eine negativ konnotierte aristokratische Partei um die Statthalter, welche die Niederlande als Landmacht in Kriege verwickelten und Seemacht nur als Verlängerung kontinentaler Politik verstanden hätten. Allerdings seien die Akteure dabei oft durch äußere Bedrohungen getrieben gewesen, wobei Ludwig XVI. hier argumentativ den Platz der Perser, Römer und Osmanen einnimmt.
Bevor Lambert sich England widmet, geht er in zwei Kapiteln auf Länder ein, die seine Kriterien nicht erfüllen, weil sie entweder maritime Identitäten ausbildeten, aber über keine reale Seemacht verfügten (Rhodos, Genua), oder weil sie eine Marine besaßen, aber keine maritime Identität (Russland, Spanien, Portugal). Dabei behandelt Lambert die Flottenpolitik Peters I. besonders ausführlich. Er verzahnt sie eng mit England als Vorbild und Rivalen und spielt so die historische Verflechtung mit den Niederlanden ebenso herunter, wie zuvor die Bedeutung der Niederlande als historische Seapower.
So entsteht der Eindruck, dass er bewusst eine im Vergleich mit den Niederlanden überlegene Rolle Englands für die Geschichte der Seapowers konstruieren will. Russland wiederum schließt Lambert Aufgrund eines autokratischen Systems, der fehlenden Freiheit des Handels und der mangelnden Offenheit für Neues als Seapower aus. Auch im Falle Portugals verhindere die Regierungsform Monarchie und insbesondere der starke Einfluss des Katholizismus und der Kreuzzugsideologie, dass das Land als Seapower gewertet werden könne. Hier zeigt sich, wie wenig marinehistorisch und wie politisch Lamberts Blick auf die Geschichte ist. Globale maritime Expansion und ein Netz von Handelsposten reichen ihm nicht – Seapower ist ohne Freiheit, Partizipation und Aufschwung nicht gegeben.
Schließlich folgt als eindeutiger Höhepunkt seiner historischen Erzählung England. Hierfür folgt Lambert ein weiteres Mal seinem in der Einleitung etablierten Schema. Er charakterisiert bereits für Heinrich VIII. den »French nation state«, den zentralisierten Katholizismus Europas und das Heilige Römische Reich als Mächte, gegen deren Einfluss England sich habe wehren müssen (S. 268). Laut Lambert habe Heinrich VIII. daher die Klosterauflösung durchgeführt und die Gelder für Flottenbau und eine defensive maritime Politik gegen französische Aggression genutzt. Die Rivalität Heinrichs mit Franz I. fehlt in seinem Buch ebenso wie Heinrichs Streben nach Festlandbesitz. Karl V. wiederum war laut Lambert ein Feind, der seine vielen Reiche »through faith and power« (S. 269) vereint habe.
Da diese Behauptung angesichts der Reformation und ihrer Folgen zumindest irreführend ist, zeigt sich, wie sehr für Lambert die politische Botschaft gegenüber der Geschichte dominiert. Er projiziert offenbar das napoleonische Reich, die Flottenrivalität des 19. Jahrhunderts und die von ihm später explizit abgelehnte heutige deutsche Außenpolitik und Europäische Union in das 16. Jahrhundert zurück. Es folgt eine einseitige Geschichte der Leistungen Englands als Seapower. In seiner Erzählung war die Unabhängigkeit der USA die Folge eines bewussten Aufgebens der nördlichen Kolonien zugunsten der Zuckerinseln in der Karibik, wodurch England im Stande gewesen sei, Frankreich und Spanien später ökonomisch zu besiegen (S. 283).
Es überrascht wenig, dass Sklaverei hier nur im Kontext ihrer Bekämpfung vorkommt (S. 291–294). Auch koloniale Konflikte oder die Opiumkriege werden ausgeblendet, denn laut Lambert stand das Empire für Fortschritt, Frieden in Europa und Vernetzung des Globus. Seinen Status als Seapower habe England aber in den beiden Weltkriegen verloren, wohinter Lambert eine gezielte Politik der USA sieht, die England als Seapower habe zerstören wollen (S. 303–307). Nach dem Verlust sowohl der realen Machtmittel als seiner maritimen Identität habe das Vereinigte Königreich dann einen Tiefpunkt erreicht, als es der späteren EU beigetreten sei und »its history and the profound ties of culture and family« aufgeben habe, die das Commonwealth geprägt hätten (S. 319).
Nimmt man die von Lambert geschaffene Narration insgesamt in den Blick, stechen zwei simple Stereotype hervor: Erstens die positiven Seapowers, denen die westliche Welt von politischer Partizipation über wirtschaftliche Freiheit bis hin zur Offenheit für neue Ideen alles zu verdanken habe (S. 323–325); zweitens die kontinentalen Mächte, die eine von Seapowers ausgehende Gefahr für ihre restriktiven Regime erkennen und sie deswegen bewusst bekämpfen – verbunden mit einer die Jahrtausende überspannenden »enduring continental aversion for all things maritime« (S. 26). Laut Lambert strebten außerdem alle historischen Kontinentalmächte nach Hegemonie, hatten eine gelenkte Wirtschaft, wurden absolutistisch-monarchisch regiert und verhinderten durch ihre Verfassung die Partizipation wirtschaftlicher Eliten.
Lambert zeichnet durch die Anpassung historischer Ereignisse an diese Theorie letztlich Zerrbilder, die ihm als historisches Fundament für eine politische Botschaft dienen. In einem Kapitel über »Seapower Today« und in seinem Fazit legt er dar, dass es heute keine echte Seapower mehr gebe. Staaten mit großen Flotten wie die USA oder China denken seiner Ansicht nach kontinental und Staaten mit maritimer Identität wie Japan oder Norwegen hätten keine großen Flotten. Eine neue Seapower könne aber an die von Lambert imaginierte Tradition anknüpfen und eine angebliche politische Lücke füllen. England müsse hierfür eine bewusste Wende zu einer maritimen Kultur vollziehen, die auf den von Lambert mehrfach erwähnten Bau neuer Flugzeugträger aufbauen könne.
Lambert sieht hierfür gewissermaßen sogar eine Notwendigkeit, die sich aus seinem Europabild ergibt, denn die EU ist für ihn »an unaccountable protectionist system that has impoverished and infantilised most member states, to the advantage of German industry in order to integrate old, culturally divers nations into a homogenised monolith« (S. 319). Er sagt außerdem voraus: »Europe will become an empire, not a nation, closer to Russia and China than the liberal democratic nation states that are the legacy of seapower« (S. 319).
Angesichts von Lamberts Qualifikationen ist anzunehmen, dass seine zum Teil verfälschenden Auslassungen oder sinnentstellenden Zuspitzungen und Aktualisierungen kein Versehen sind. Insofern ist sein Buch als ein herausragendes Beispiel für politische Historiographie in unserer Gegenwart und für den Versuch zu sehen, eigene Ansichten durch angebliche historische Gesetzmäßigkeiten zu legitimieren. Für Geschichte als Wissenschaft sind solche von Experten verfassten und von namhaften Verlagen prominent beworbenen populärhistorischen Werke eine ernstzunehmende Herausforderung und die Auseinandersetzung mit ihnen sollte eine wichtige Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Simon Karstens, Rezension von/compte rendu de: Andrew Lambert, Seapower States. Maritime Culture, Continental Empires and the Conflict that Made the Modern World, New Haven, London (Yale University Press) 2018, XVIII–399 p., 9 b/w, 8 col. ill, 7 maps , ISBN 978-0-300-23004-8, USD 30,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59811